Johannes Wrobel: Zeugen Jehovas im Konzentrationslager - eine konstante Häftlingskategorie 1933-1945, in: Informationen - Studienkreis: Deutscher Widerstand, Frankfurt/Main, Nr. 60, Oktober 2004, S. 32-34. Ungekürzte Englische Originalfassung des Aufsatzes (complete English version) ... Info zur Zeitschrift und dieser Ausgabe ...

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Ungekürzte, überarbeitete englische Originalfassung: new English publication Johannes S. Wrobel: Jehovah’s Witnesses in National Socialist Concentration Camps, 1933-1945, in: Religion, State & Society, vol. 34, no. 2 (June 2006), pp. 89-125. Selection of articles... More information and how to order this issue...


ÜBERSICHT

Zeugen Jehovas im Konzentrationslager – eine konstante Häftlingskategorie 1933–1945 - 32 Zitat ...

In den frühen KZ - 32 Zitat ...

Wendepunkt "Verpflichtungserklärung" - 32 Zitat ...

Haftverschärfung und "Isolierung" - 33 Zitat ...

Eskalation und Wende 1942/43- 34 Zitat ...


ZITATE

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[Seite 32]

Zeugen Jehovas im Konzentrationslager – eine konstante Häftlingskategorie 1933–1945[1]

Mit der Reorganisierung der KZ im Jahre 1936 erfanden SS-Bürokraten ein Kategorisierungssystem, wobei sie Haftgruppen gemäß ihrer Relevanz und "Kennzeichen" mittels Winkel und Farben festlegten.[2] [...] Worauf gründete die SS ihre Klassifikation im Falle der Zeugen Jehovas? Welche Relevanz kommt der Haftgruppe insgesamt von 1933 bis 1945 zu?

In den frühen KZ

Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas (vor 1931 "Bibelforscher") bzw. der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung (IBV) und ihrer Wachtturm-Gesellschaft setzte ein, weil sie das kommende Friedensreich Gottes auf Erden predigten und Führerkult, Rassenwahn, Nationalismus und Krieg ablehnten. Im April 1933 – Bayern, Thüringen und Sachsen erließen Betätigungsverbote (am 24. Juni strenges Verbot in Preußen) – kam der Schuhmacher Friedrich Parsieglo als einer der ersten Zeugen Jehovas für drei Monate in das KZ Sonnenburg. Nach der Verteilung der Protesterklärung vom Kongreß in Berlin am 25. Juni schickte man Konrad Franke in das KZ Osthofen. Bis 1934 gab es auch Einweisungen in die Lager Colditz, Dachau, Heuberg, Hohnstein und Sachsenburg, wie zeitgenössische Wachtturm-Berichte schreiben, wobei die "politischen Häftlinge und Juden sogar noch schlimmer [als die Zeugen Jehovas] behandelt" wurden. Von den rund 1.000 bis März 1934 verhafteten Zeugen Jehovas waren etwa 400 in einem KZ, also 40 Prozent (was hier als Vergleichsgröße dient). […]

[Seite 32]

Wendepunkt "Verpflichtungserklärung"

1935 begann der Ausbau der KZ und die allgemeine Wehrpflicht wurde eingeführt. Von da an legten Gestapo und SS den Zeugen Jehovas in "Schutzhaft" eine Erklärung zum Abschwören ihres Glaubens vor, um ihre Freilassung und Kollaboration zu bewirken. (Ab 1938 vereinheitlichte man den Wortlaut.) Weil sie die Unterschrift verweigerten, verschlechterte sich ihre Haftsituation. Alle kamen 1935 in Esterwegen in die "Strafkompanie", wo man nach Vorwänden suchte, sie ständig zu bestrafen. Zeitzeuge Karl Kirscht bemerkt: "Jehovas Zeugen wurden in den KZ am meisten schikaniert. Man glaubte, sie dadurch zur Unterschrift einer Widerrufserklärung bewegen zu können." Ihre Unbeugsamkeit ließ sie nun zum "besonderen Haßobjekt der SS" (Garbe) werden. […]

[Seite 33]

[…] Die Zuweisung des exklusiven lila Stoffwinkels fiel in eine Zeit, als die Bibelforscher-Häftlinge zahlenmäßig eine exponierte Rolle spielten. Die Identifizierung und Isolierung der Gefangenen durch Farbcodes erleichterten SS und Kapos deren Stigmatisierung, spezifische Verhöhnung und "Bestrafung". Die lila Winkel hatten auch Vorteile – Glaubensbrüder erkannten und halfen sich. Nach der Befreiung trugen viele ihre Häftlingskleidung mit dem Winkel – das "Ehrenkleid" – nicht ohne Stolz, wenn sie bei Behörden vorsprechen mussten.

Als der Häftlingsbestand insgesamt einen Tiefstand erreichte (nicht bei Zeugen Jehovas), veranlaßten die Nationalsozialisten, das Menschen-Reservoir mit mehr Arbeitssklaven aufzufüllen – ab März 1937 mit "Berufsverbrechern" ("Befristete Vorbeugungshäftlinge"), ab Juni 1938 mit "Asozialen" (z.B. "Arbeitsscheue", Alkoholiker, Bettler, Prostituierte, Zuhälter, sogar Sinti und Roma fielen darunter) und arbeitsfähigen Juden. Während sich die Häftlingsstruktur veränderte, verloren die Zeugen Jehovas in den neuen Stammlagern ihre teilweise beachtlichen zahlenmäßigen Anteile. Ab September 1938 kamen Gefangene aus Österreich, und nach dem Novemberpogrom stieg die Gesamtzahl von 24.000 auf 60.000 Häftlinge in den unerträglich überbelegten KZ-Baracken.

Haftverschärfung und "Isolierung"

Die SS ergriff schärfere Maßnahmen gegen die "Bifo", die ihren Glauben standhaft vertraten, nicht abschwörten und wiederholt in "Schutzhaft" kamen. Mußten sie 1935 wie die Juden in Esterwegen in der "Strafkompanie" arbeiten, so steckte man sie nun in die "besonderen Abteilungen" für Rückfällige, die im März 1936 für alle KZ angeordnet wurden. Dort drangsalierte man die Häftlinge mit 10-Stunden-Fronarbeit, eingeschränktem Briefverkehr, Paketsperre, Sonntagsarbeit und vielen Schikanen. […]

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Eskalation und Wende 1942/43

Mit Kriegsausbruch verschlechterte sich die Situation der nonkonformen Zeugen Jehovas [weiter]. Rundfunk und Presse machten die Exekution des Kriegsdienstverweigerers August Dickmann international bekannt, den Himmler am 15. September 1939 auf dem Appellplatz des KZ Sachsenhausen vor den Augen aller Häftlinge erschießen ließ. Danach nahm die Drangsalierung seiner Glaubensbrüder in allen Lagern dramatisch zu. Im harten Winter 1939/1940 starben fast 100 von den rund 400 Zeugen Jehovas im KZ Sachsenhausen durch Mißhandlung, Hunger oder Erschöpfung. Im KZ Ravensbrück pferchte man die Bibelforscherfrauen scharenweise in enge Dunkelzellen und ließ sie fast verhungern. Erst als die SS die Erfolglosigkeit ihrer Methoden einsah, ließen die Torturen etwas nach.

Die Internationalisierung der KZ-Häftlingsgesellschaft nach Kriegsausbruch, die rund 1.300 nichtdeutsche Zeugen Jehovas einschloß, ließ die Lager überquellen. Die Lila-Winkel-Häftlinge bildeten nur noch im Frauen-KZ Lichtenburg und anfangs in Ravensbrück (40%), später in Wewelsburg (7,7%, ab Mai 1940 fast 100%) und in manchen Außenkommandos eine zahlenmäßig signifikante Häftlingsgruppe. Dennoch behandelte die SS (und Mithäftlinge) die Bibelforscher bis zum Kollaps des Lagerkosmos 1945 als Gruppe mit einer tatsächlichen "Sonderstellung", was auf ihrem Verhalten, Ruf und ihrer Präsenz in Außenlagern beruhte, wohl kaum weil die SS sie für "einflußreicher, als sie tatsächlich waren" (Sofsky) hielt.[4]

Das Jahr 1942 markierte einen Wendepunkt durch die Definierung der "wirtschaftlichen Aufgabe" der KZ, mit der Übernahme ihrer Leitung durch das SS Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) und einer "verbesserten" Verpflegung der KZ-Sklaven, die in kriegswichtigen Betrieben [und durch die Wirtschaft] ausgebeutet wurden. Im Januar 1943 – das Regime trat in die Phase des nahenden Niedergangs – wies Himmler an, das "Bibelforscherproblem" pragmatisch zu lösen und ihre Qualitäten (Fleiß, Ehrlichkeit, keine Fluchtgefahr) auf Farmen, in Handwerkerkommandos, SS-Haushalten und "Lebensborn"-Heimen zu nutzen, wo sie nichts mit dem Krieg zu tun hatten. Allerdings waren ähnliche Einsätze längst Praxis. Seit 1938 arbeiteten Zeugen Jehovas als Handwerker oder Bauhelfer in Außenkommandos des KZ Dachau, besonders ab dem Sommer 1939, als sie durch ihre Zuverlässigkeit und unbeirrte Haltung der SS einen gewissen Respekt abgerungen hatten. Sie blieben "Staatsfeinde" für das Regime – im April 1944 ordnete Himmler eine überraschende Durchsuchungsaktion in mehreren Stammlagern an. Große Mengen Wachtturm-Literatur wurden gefunden und die "Rädelsführer" schwer bestraft. Die Zeugen Jehovas setzten die illegale religiöse Betätigung bis 1945 fort und vervielfältigten heimlich im KZ Wewelsburg ihre Literatur.

Im chaotischen Finale des Regimes starben mindestens ein Drittel der mehr als 700.000 registrierten KZ-Häftlinge. In der Gruppe der Zeugen Jehovas führten Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe (Charakteristika der Häftlingsgruppe), auch auf den "Todesmärschen", zu einer niedrigeren Sterberate. Bis zur Befreiung hatten mindestens 4.100 Zeugen Jehovas (soweit namentlich bekannt) in einem KZ gelitten – 2.800 Deutsche und 1.300 anderer Nationalität. Von ihnen verloren etwa 1.000 Personen ihr Leben als KZ-Häftlinge – 70 Prozent der über 1.400 Todesopfer (über 360 Hinrichtungen) unter den insgesamt 12.000 Verfolgten.[5]

Die verfolgten Zeugen Jehovas bilden ab 1933 eine spezifische NS-Opfergruppe und in der Folge eine eigenständige, durchaus konstante Häftlingskategorie in Straf- und Konzentrationslagern. In der Phase der Herrschaftssicherung des Regimes (1935–1938) kommt der Häftlingsgruppe mit dem lila Winkel eine Signifikanz zu, die bislang häufig übersehen wird und für ihre Neubewertung in Forschung und Ausstellungen spricht. Der "lila Winkel" als Dokument erinnert und mahnt zugleich.

Anmerkungen

[1] Zusammenfassung des Referats, "Jehovah’s Witnesses in Nazi Concentration Camps 1933–1945" vom 21. Februar 2004, Staffordshire University (GB), Symposium "The Jehovah’s Witnesses and the Two Dictators". Eine Veröffentlichung mit Belegstellen ist in Vorbereitung. Literaturauswahl (siehe auch www.standfirm.de): Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im "Dritten Reich". München 1999, S. 403, 407ff. Hans Hesse/Jürgen Harder: "Und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müßte" – Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück. Essen 2001, S. 34, 46, 51f.

[2] Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt/Main 1993, S. 138, 142.

[4] Die Originaltafel der SS, "Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konz. Lagern. Form und Farbe der Kennzeichen" befindet sich beim Internationalen Suchdienst Arolsen. Solche Tafeln wurden noch in den Jahren 1940 und 1941 allen KZ-Kommandanten übermittelt. Siehe Hans Marsalek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Wien 1995, S. 40 (mit Foto).

[5] Johannes Wrobel: Die Nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main, in: Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft, 2 (2003), S. 391, www.jwhistory.net/text/wrobel-frankfurt2003.htm.

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