Willi K. Pohl: Jehovas Zeugen als NS-Opfergruppe Erinnerung und Würdigung, in: 60. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück sowie aus dem Zuchthaus Brandenburg. 14. bis 18. April 2005, 24. April 2005. Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (Hg.), Redaktion Horst Seferens, Oranienburg 2005, S. 136-139.
Jehovas Zeugen als
NS-Opfergruppe
Erinnerung und Würdigung
Vor 60 Jahren gehörten zu den Befreiten aus Konzentrationslagern, Haftanstalten und NS-Kinderheimen Tausende Zeugen Jehovas oder "Bibelforscher". Ihre Glaubenssätze waren mit dem Nationalsozialismus völlig unvereinbar, und die Herrschenden ließen die Gläubigen für ihre Nichtanpassung von Anfang an büßen ab 1933 und bis zum Ende ihrer Herrschaft. In Deutschland und in den besetzten Ländern waren mehr als 12.000 Zeugen Jehovas durch Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten unmittelbar betroffen. Dazu zählen weit über 10.000 Verhaftete, von denen die meisten eine Gefängnisstrafe erhielten und über 4.000 ein oder mehrere Konzentrationslager durchliefen. Als KZ-Häftlinge mit dem "lila Winkel" bildeten die Zeugen Jehovas eine eigene Kategorie und wurden das besondere Hassobjekt der SS. Viele ihrer Kinder wurden in NS-Erziehungsheime weggeschlossen oder regimetreuen Familien überstellt. Soweit namentlich bekannt, kamen durch die nationalsozialistische Verfolgung in Europa über 1.400 Zeugen Jehovas zu Tode.
Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten stellt zu Recht zum 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager die noch Überlebenden in den Mittelpunkt. Es leben nur noch wenige Zeugen Jehovas aus der Generation unter uns, die miterlebte, wie Andersdenkende stigmatisiert und durch Staatsunrecht grausam verfolgt wurden. Um jede Wiederholung einer solchen Schreckensherrschaft zu vermeiden, bleibt der Aufruf von Professor Dr. Roman Herzog, Formen des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirken, eine Aufgabe jeder folgenden Generation. Wie manche Berichte von anderen KZ-Überlebenden aus der Nachkriegszeit erkennen lassen, blieb die Glaubenstreue der Zeugen Jehovas, ihre moralische Integrität wie auch ihre Mitmenschlichkeit in lebendiger Erinnerung. Dennoch gerieten die verfolgten Zeugen Jehovas bei Aussenstehenden für lange Zeit in ziemliche Vergessenheit. Wenn wir heute zurückblicken, sehen wir in jüngster Vergangenheit anerkennenswerte Bemühungen, die Erinnerung an die Opfergruppe der Zeugen Jehovas lebendig zu erhalten.
Nachdem 1994 das United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. die Verfolgung der Zeugen Jehovas im NS-Reich besonders herausstellte, produzierte die Religionsgemeinschaft 1996 die Videodokumentation "Standhaft trotz Verfolgung Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime" für öffentliche Veranstaltungen, auf denen dann Zeitzeugen und Historiker zu Wort kamen, und auch eine Wanderausstellung mit 50 Tafeln über die Verfolgungszeit. Viele Bürger wurden durch die Berichte in der lokalen Presse darüber informiert. Allein in Deutschland sahen über 600.000 Besucher die Videodokumentation. Solche Veranstaltungen im In- und Ausland haben die Erinnerung an ihr unerschütterliches Eintreten für die Lehren der Bibel im Gegensatz zu den NS-Doktrinen in der Öffentlichkeit nachhaltig gefördert.
In dieser Zeit entstand auch das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus, das viele konkrete Verfolgungsfälle der Gläubigen dokumentiert und für die Forschung zugänglich gemacht hat. Die Aufarbeitung geht über die Zeit des NS-Terrors hinaus, da Hunderte NS-Opfer (und Tausende weiterer Zeugen Jehovas) in der damaligen DDR ab 1950 wegen ihres Glaubens erneut einer verbotenen Religion angehörten und zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Das widerfuhr zum Beispiel über 70 ehemaligen Häftlingen des KZ Sachsenhausen, von denen dann einige tragischerweise in DDR-Zuchthäusern den Tod fanden. Bis zu seinem Zusammenbruch setzte das SED-Regime durch seinen Stasi-Apparat Methoden der Desinformation ein, um Jehovas Zeugen in Ost und West in Mißkredit zu bringen. Die Behandlung dieses dunklen Abschnittes der Geschichte gehört in die Erinnerung an das Eintreten der Zeugen Jehovas für die Glaubensfreiheit in Deutschland. Von Historikern und Zeitzeugen erschienen in letzter Zeit eine Anzahl von Publikationen zu dem, was Jehovas Zeugen unter der NS- und der SED-Diktatur widerfuhr.
Zur Information der Öffentlichkeit stellen wir auch weiterhin die oben erwähnte Ausstellung zur Verfügung, und die 50 Ausstellungstafeln werden beispielsweise Anfang 2005 für mehrere Wochen in der Gedenkstätte KZ Osthofen gezeigt. Unser Informationsbüro dient auch als Ansprechpartner für Materialien für den Schulunterricht zur Verfolgungsgeschichte unter der NS-Diktatur.
Für das Gedenken an die NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas hat die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten seit einigen Jahren anläßlich des Befreiungstages in Sachsenhausen entsprechende Möglichkeiten geschaffen, wofür wir dankbar sind. Denn in der Hinrichtungsstätte Brandenburg wie auch in den brandenburgischen Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen litten sehr viele Zeugen Jehovas. In etlichen KZ-Gedenkstätten erinnern Tafeln an die Opfergruppe der Zeugen Jehovas, so in Mauthausen seit 1998, in Sachsenhausen seit 1999, in Buchenwald seit 2002 und in Dachau seit 2003. Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau veranstaltete im Herbst 2004 eine Sonderausstellung über die Häftlinge mit dem "lila Winkel". Die Erinnerung an das, was vor über 60 Jahren Tausende Frauen, Männer und Kindern wegen ihres beispielhaften Eintretens für ihren christlichen Glauben erduldeten, kann auf vielfältige Weise in Schulen, Universitäten, Gedenkstätten und Museen wachgehalten werden.
Abschließend möchte ich zur Erinnerung an die sich anbahnende Befreiung der 230 Zeugen Jehovas aus dem KZ Sachsenhausen und anderen Lagern aus einem Bericht von Karl Läufer zitieren, der ihre Fürsorge für einander selbst unter den damaligen schrecklichen Umständen des "Todesmarsches" nach Schwerin zur sogenannten Evakuierung des Lagers erkennen läßt: "Es war im April 1945, da taten sich die Lagertore endgültig für uns auf. Die bisher gewohnte Ordnung löste sich auf und so war es uns möglich, alle in einem Block zu versammeln, ohne Aufsicht. Wir gedachten gebetsvoll der göttlichen Verheißungen und sprachen uns Mut zu für das nun noch auf uns Zukommende, denn nun ging es unter der Bewachung der SS von Sachsenhausen nach Schwerin in Mecklenburg. Als Letzte verließen wir das Lager, nachdem alle anderen Häftlinge schon voraus abmarschiert waren. Etwas Besonderes wurde uns für den Transport von der SS anvertraut, dabei handelte es sich um ihre Wertsachen, welche in Kisten verpackt waren, auf einem großen Handwagen geladen, den wir mitnehmen mußten. Auf dem langen Marsch wurden viele Häftlinge infolge Ermüdung von der SS erschossen, wenn sie nicht mehr gehen konnten. Anders war es bei uns Brüdern, denn sobald einer nicht mehr gehen konnte, so kam er auf den Wagen zu sitzen und wurde so mitgenommen und vor dem Tode bewahrt."
Willi K. Pohl
Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland, e.V.,
Präsident
- Der Text wurde auch in Englisch, Französisch, Polnisch und Russisch veröffentlicht -