Reinhard Moos: Vorwort, in: Marcus Herrberger: Denn es steht geschrieben: "Du sollst nicht töten!" Die Verfolgung religiöser Kriegsdienstverweigerer unter dem NS-Regime mit besonderer Berücksichtigung der Zeugen Jehovas (1939-1945), Wien 2005, S. 5-9. Inhaltsverzeichnis... Tagungsprogramm des Herrausgebers ...


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Reinhard Moos

Vorwort

Dieses Buch ist den Kriegsdienstverweigerern aus religiösen Gründen gewidmet, die von der NS-Militärjustiz zum Tode verurteilt wurden, weil sie selbst nicht töten wollten.

Gerne komme ich der Bitte des Herausgebers nach, ein Vorwort zu schreiben. Wie aus gelegentlichen Zitaten hervorgeht, habe ich mich im Anschluss an den großen Forschungsbericht von Fritz Wüllner über die Geschichtsschreibung der NS-Militärjustiz mehrfach mit dieser Materie und mit der Rehabilitierung der Opfer befasst. Unter dem Aspekt der juristischen Vergangenheitsbewältigung des Unrechts, das den Opfern jener Justiz zugefügt wurde, lag es für mich nahe, eine Verbindung sowohl zu einigen berühmten deutschen Verurteilten, wie dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer oder dem katholischen, inzwischen selig gesprochenen Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg als auch zu dem einfachen österreichischen Bauern Franz Jägerstätter herzustellen, der wegen Kriegsdienstverweigerung aus christlichen Gewissensgründen vom Reichskriegsgericht (RKG) zum Tode verurteilt wurde. Jägerstätter ist in Österreich so sehr zum Symbol für politischen Widerstand gegen das NS-Regime aus christlicher Glaubensstärke geworden, dass sein Seligsprechungsprozess als Märtyrer beim Vatikan eingeleitet worden ist. Sie alle wurden im letzten Jahrzehnt durch Aufhebung der Verurteilung rehabilitiert.

Zu ihnen kam vor wenigen Jahren das Gedenken an die Zeugen Jehovas als bisher weithin vergessener Opfer der NS-Militärjustiz hinzu. Es wurde in Österreich durch das Buch von Vinzenz Jobst über den Zeugen Jehovas Anton Uran angeregt, der ebenfalls wegen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zum Tode verurteilt und hingerichtet worden ist. Auch die Verurteilung Urans wurde gerichtlich als aufgehoben erklärt. Damit wurde die Rechtmäßigkeit und Ehrenhaftigkeit seiner Haltung nachträglich festgestellt. Er war nur einer von vielen Anhängern seiner Glaubensgemeinschaft, die wegen Kriegsdienstverweigerung sterben mussten. In den neunziger Jahren erwachte unter den Zeugen Jehovas eine allgemeine Bewegung, die sich gegen das Vergessen ihrer Verfolgung durch das NS-Regime wendete. In Österreich führte sie dazu, dass bisher sieben weitere Zeugen Jehovas, die vom RKG zum Tode verurteilt worden waren, juristisch rehabilitiert wurden. Sie stehen symbolisch für [S. 6] die vielen anderen Zeugen Jehovas, die um ihres Glaubens willen sterben mussten und nicht weniger Märtyrer waren als die evangelischen und katholischen Blutzeugen. Deutsche und Österreicher bildeten dabei eine Schicksalsgemeinschaft.

Den hauptsächlichen Inhalt dieses Buches bildet die große Abhandlung und Dokumentation von Marcus Herrberger über die Verfolgungsgeschichte der Kriegsdienstverweigerer einschließlich ihrer Gewissenskämpfe. Sie wird durch Beiträge von Johannes Wrobel und Heidi Gsell speziell zum Schicksal der Zeugen Jehovas abgerundet. Wrobel hat die Dokumentation des persönlich-religiösen Teils übernommen. Er berichtet zum einen über die 70 bisher aufgefundenen, ergreifenden Abschiedsbriefe, die kurz vor den Hinrichtungen verfasst wurden. Einige werden zur Gänze veröffentlicht, die übrigen werden im einzelnen jeweils mit Wiedergabe charakteristischer Zitate des unerschütterlichen Gottvertrauens dieser Menschen dokumentiert. Zum anderen behandelt er die Wirkung jener Briefe sowohl als Trost für die Hinterbliebenen als auch als Glaubensstärkung für die ganze Gemeinschaft. Heidi Gsell beschäftigt sich mit der Rehabilitierung und allgemeinen Bewusstseinsbildung über diese "vergessenen Opfer" in Österreich. Dazu gehören die einzelnen Urteilsaufhebungen, die Tätigkeit des Wiener Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas und die vielfältige Öffentlichkeitsarbeit.

Der Beitrag von Herrberger ist eine eigene Monographie. Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil betrifft die Kriegsdienstverweigerung der Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen. Der umfangreich zweite Teil befasst sich mit den Zeugen Jehovas, so dass eine Gesamtdarstellung entsteht, die bisher gefehlt hat. Die Zeugen Jehovas bilden schon deshalb den Hauptteil, weil rd. 300 von ihnen ihr Leben lassen mussten, während die nachweislich hingerichteten Kriegsdienstverweigerer der anderen Glaubensgemeinschaften nur einen kleinen Buchteil davon ausmachen.

Zu diesen ganz wenigen übrigen Verweigerern, die aus der Masse des Volkes herausragen, hat Herrberger alles verfügbare Material aus Literatur und Akten zusammengetragen. Unter den Millionen Katholiken und Protestanten sowie den Sekten mit Ausnahme der Zeugen Jehovas konnte er nur 51 religiös motivierte Kriegsdienstverweigerer ermitteln, die sich vor dem RKG verantworten mussten, das für diese Fälle zuständig war. Darunter waren nicht mehr als elf Katholiken und vier Protestanten. Mehr als die Hälfte fällt auf eine Splittergruppe der Adventisten und auf einige sonstige kleinere Glaubensgruppen. Während die verweigernden Sektenangehörigen, wie auch die Zeugen Jehovas, unter der Zustimmung und [S. 7] der Erwartung ihrer Standhaftigkeit durch ihre Gemeinschaft standen, befanden sich die katholischen und protestantischen Verweigerer außerhalb der offiziellen Kirchenhaltung, was der Verfasser im Einzelnen belegt. Das ist noch immer spürbar, wie etwa die lange Ablehnung Jägerstätters durch seine Glaubens- und Volksgenossen zeigt. Herrberger widmet diesen wenigen Persönlichkeiten jeweils eigene Abschnitte, darunter auch den Österreichern Franz Reinisch und Franz Jägerstätter sowie Hermann Stöhr als einzigem näher bekannten Protestanten. Seine akribische Untersuchung lässt das Wüten der Richter des RKG, die sich zu willigen Vollstreckern des nationalsozialistischen "Rechts" machten, überdeutlich werden.

Freilich war die Wehrdienstverweigerung nur ein Teil des religiös begründeten Widerstandes. Die zahlreichen anderen Regimegegner aus christlicher Überzeugung, angegangen mit so großen Namen wie Bonhoeffer und Lichtenberg bis hin zu dem lange unbekannt gebliebenen 19jährigen Walter Klingenbeck aus München, dessen erst unlängst in seiner Heimatstadt gedacht wurde, liegen außerhalb des hier thematisierten Personenkreises.

Das Leiden der Zeugen Jehovas, das den Hauptteil des Buches bildet, ist nicht nur ein wesentlicher Teil der Geschichte und Identität dieser Glaubensgemeinschaft, sondern auch der allgemeinen deutschen Geschichte unter dem Hakenkreuz. Es ist wichtig, dieses Kapitel dokumentarisch aufzuarbeiten, um insbesondere der Nachwelt bewusst zu machen, zu welchem Unrecht dieses totalitäre System im Rahmen seiner Gesetze fähig war und was die Zeugen Jehovas ertragen mussten, weil sie Gott mehr gehorchten als den Menschen. Auch wer sich religiös nicht mit ihnen identifizieren kann, wie ich selbst, muss tief beeindruckt sein von der Tapferkeit und Ehrenhaftigkeit dieses Widerstandes gegen Hitler. Von ihren Richtern wurden sie dagegen als "minderwertige Elemente" beschimpft, die nichts anderes als den Tod verdient hätten. Die Erforschung der Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas und ihre Einbettung in die allgemeine Vergangenheitsbewältigung jener schlimmen Epoche sollte dazu beitragen, die allgemeinen Vorurteile gegen diese "Abweichler" abzubauen, die auch bei ihrer Verfolgung durch das NS-Regime eine Rolle spielten.

Der Verfasser hat zur Dokumentation der Verfolgung und Ächtung der Zeugen Jehovas durch die Militärjustiz eine Unmenge Material gesichtet und systematisch verarbeitet. Nach einer allgemeinen Darstellung der damaligen Gesetzeslage erweitert er die vorhandene Literatur durch umfangreiche, gewissenhafte und mühevolle, jahrelange eigene Forschungen [S. 8] aufgrund vielfältigen Archivmaterials einschließlich zahlreicher verborgener Erlasse und Stellungnahmen höchster Militärdienststellen, ergänzt durch persönliche Dokumente und Befragungen. Zu den Gerichtsurteilen zitiert Herrberger charakteristische Textstellen. Er bezieht auch die Akten, dh Anklagen, Vernehmungsprotokolle, Eingaben usw. ein, soweit sie noch aufzufinden waren. Die betroffenen Personen werden stets konkret und namentlich erfasst. Über die Einzelfälle hinaus werden die juristische Praxis und die politischen Hintergründe aufgearbeitet. Die Menge des verarbeiteten Materials, die wissenschaftliche Methode der Auswertung, des Aufbaues, der sachlichen Darstellung und der reichen Dokumentation, die Gründlichkeit und die klare, gepflegte Sprache machen diese Abhandlung zu dem Standardwerk der Forschung auf diesem Gebiet.

Wichtige statistische Forschungsergebnisse sind die bisher ermittelbaren Zahlen der vom RKG abgeurteilten Zeugen Jehovas, der darauf entfallenden Todesurteile und ihrer Vollstreckungen, der Todesurteile anderer Kriegsgerichte sowie der Todesfolge beim Vollzug von Freiheitsstrafen. Die Arbeit schließt mit zwei Opferlisten mit Nennung der jeweiligen dokumentarischen Fundstellen: der Namenslisten von 270 Todesurteilen gegen Zeugen Jehovas mit Angaben zur Person Verurteilung und Hinrichtung sowie der Namensliste von 38 Zeugen Jehovas, die in Folge des Vollzugs von Freiheitsstrafen oder in Strafeinheiten ums Leben kamen.

Über die äußere Verfolgungsgeschichte der kriegsdienstverweigernden Zeugen Jehovas hinaus geht Herrberger in einem eigenen Kapitel auf die religiösen Motive der einzelnen Personen näher ein, wie sie sich aus verschiedenen Dokumenten ergeben. Die Zeugen Jehovas waren zwischen zwei entgegengesetzten Gehorsamspflichten eingezwängt: Der rechtlichen Pflicht als Staatsbürger und der religiösen Pflicht gegenüber ihrem Gott Jehova, wie sie sie durch die Bibel und die Interpretation des "Wachtturm" verstehen. Die religiöse Pflicht ergab sich für sie sowohl aus dem biblischen Gebote "Du sollst nicht töten" als auch aus dem von ihnen aus der Gottesherrschaft abgeleiteten Gebot absoluter Neutralität in "Angelegenheiten dieser Welt". Daraus wird das Verbot jeder politischen Betätigung und besonders des Fahneneides und der Teilnahme am Wehrdienst abgeleitet. Die Einstellung der Zeugen Jehovas geht darum über die pazifistische Einhaltung des Tötungsverbots weit hinaus. Herrberger beschäftigt sich näher mit dem Sinn und Umfang dieses Dogmas. Dahinter steht freilich das tragische Dilemma, dass die Zeugen Jehovas einerseits wegen ihrer politischen Neutralität dem Staat die Gefolgschaft verweigerten und sich andererseits infolge des Totalitätsanspruchs des NS-Regimes [S. 9] gerade dadurch selbst zu polischen Gegnern des Regimes machten. Sie wurden vom Staat vor die Wahl gestellt: "Wer nicht für mich ist, ist wider mich." Die subjektive Neutralität der Zeugen Jehovas musste sich objektiv in politischen Widerstand niederschlagen. Indem sie sich den politischen Ansprüchen der "Volksgemeinschaft" verweigerten, bildeten sie, wie es in den Urteilsbegründungen hieß, eine Gefahr für diese, der durch härteste Abschreckung vorgebeugt werden sollte.

Das erwähnte Dilemma, dass die Zeugen Jehovas im Gegensatz zu ihrem eigenen Bekenntnis tatsächlich passiven politischen Widerstand leisteten, trug bis in die 90er Jahre zur eigenen Verdrängung ihrer Rolle als politische Opfer der NS-Justiz bei. Dadurch unterscheiden sie sich denn auch von den anderen christlichen Blutzeugen wie etwa Reinisch und Jägerstätter, die nicht politisch neutral sein wollten und gegen den Nationalsozialismus und seine Untaten protestierten. Das Rechtsverhältnis der nachfolgenden Generationen knüpft an das Zeugnis dieser Gegner des Nationalsozialismus ebenso an wie an das der Zeugen Jehovas. So gehört es zur Rechtspolitik der Gegenwart, dass alle Verurteilungen durch die NS-Militärjustiz aufgehoben werden müssen, soweit sie der Geltung unverrückbarer, elementarer abendländisch-christlicher Werte widersprachen. Damit wird auch den Zeugen Jehovas späte Gerechtigkeit zuteil, indem ihnen die politische Neutralität, die sie damals vergeblich für sich in Anspruch nehmen wollten, wieder zurückgegeben wird.

Dieses Buch ist ein Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Systems sowie ein Denkmal der Hochachtung vor der persönlichen Gewissenshaltung und dem Mut der Kriegsdienstverweigerer. Beides ruft uns zu jener Toleranz auf, die der große Preußenkönig Friedrich II. mit dem bekannten Motto, dass jeder nach seiner eigenen Facon selig werden solle, zu einem elementaren Menschenrecht und Bestandteil unserer Kultur gemacht hat. Wie Herrberger berichtet, hielt dieses Motto ein verzweifelter Zeuge Jehovas, der sich auf Gottes Gebote als alleinige Richtschnur all seines Handelns berief, der Einberufungsbehörde des totalitären, "preußischen" NS-Staates vergeblich entgegen. Er wurde wenige Wochen später wie alle anderen zum Tode verurteilt und enthauptet.

Univ.-Prof. Dr. Reinhard Moos


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