Johannes S. Wrobel: Die Ernsten Bibelforscher (Jehovas Zeugen) und ihre Wachtturm-Gesellschaft in Elberfeld und Barmen 1902-1923, in: Geschichte im Wuppertal 2004, Bergischer Geschichtsverein, Abteilung Wuppertal e.V. / Historisches Zentrum - Stadtarchiv - Stadtbibliothek (Hg.), S. 78-95. ISSN 1436-008X.
Bezugsquelle (Stand 2004): Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee 89-91, 42285 Wuppertal; PDF-Online: http://www.bgv-wuppertal.de/GiW/Jg13/6Wachtturm.pdf [deaktiviert]; Präsentiertes PDF-Format: (Download).
[Seite 78]
Johannes Wrobel
In der Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland (vor 1931 „Ernste Bibelforscher“) spielten Elberfeld und Barmen von 1902 bis 1923 eine bedeutende Rolle als Verlagsorte und Sitz der christlichen Religionsgemeinschaft.[1]
Ihre Weltzentrale befindet sich in den Vereinigten Staaten. In den frühen 1870er Jahren formierten sich dort Bibelforscher in Allegheny (Pennsylvanien) um Charles T. Russell (1852–1916). Sie sahen sich in der Nachfolge der Urkirche des 1. Jahrhunderts u.Z. und suchten deren biblische Heilslehre durch Traktate zu verbreiten. Die Bruderschaft gründete 1881 den religiösen, nichtkommerziellen Verlag „Watch Tower Bible and Tract Society“ (Wachtturm, Bibel- und Traktat-Gesellschaft), der bald auch synonym für die Leitung der Bewegung gebraucht wurde und sie von anderen Kirchen unterschied. Russell war Präsident und maßgeblicher Entscheidungsträger der Gesellschaft; der Vorstand und die Mitautoren bildeten das religiöse Leitungsgremium, und ihre englische Zeitschrift „Zion’s Watch Tower“ (engl. seit 1879, „Zions Wacht-Turm“ seit 1897) war das Sprachrohr.
Mit der Zeit brachte Russell zahlreiche Traktate, Broschüren und eine Bücherserie in mehreren Sprachen heraus. Eine deutsche Missionsausgabe des „Watch Towers“ erschien 1885. Im Mittelpunkt stand dabei das Evangelium vom bevorstehenden Reich Gottes auf Erden (Millennium) und der Charakter des designierten Königs Jesus Christus, dessen Fußstapfen man genau zu folgen suchte und demgemäß auch „religiöse Irrtümer“ bloßstellte. Letzteres sollte ihnen viel Feindseligkeit und Gegenpropaganda einbringen. Die Bibelforscher beharrten darauf, traditionelle kirchliche Spätlehren, wie die Kindertaufe, die Dreifaltigkeit und die Unsterblichkeit der Seele (die biblische „Seele“ ist der Mensch selbst) abzulehnen. Manche sprachen ihnen sogar ab, eine „christliche“ Kirche zu sein, weil sie keine Trinitarier waren (der Allmächtige und sein Sohn Jesus sind zwei Geistpersonen, der „heilige Geist“ Gottes Kraft) und unbefangen den Gottesnamen „Jehova“ (Jahwe) gebrauchten. Sie zeichnen sich durch großen Missionseifer aus und praktizieren die Erwachsenentaufe.
In Deutschland, wo seit den 1890er Jahren Bibelforscher anhand von Wachtturm-Literatur die Bibel studierten, gab es zunächst nur Literaturdepots der Gesellschaft in Berlin (ab 1897 oder früher) und Bremen (1899–1902). Nachdem die Leserschaft und das deutsche Bibelforscherwerk wuchs und in London 1900 das erste Zweigbüro der Watch Tower Society entstand, kam die Zeit, auch in Deutschland ein Zweigbüro zu eröffnen.
Ab Juli 1902 findet sich im Impressum von „Zions Wacht-Turm“ der Hinweis, daß „Abonnemente und Korrespondenz“ außer an das „Bible House“ (Bibelhaus) in Allegheny auch an die „Wacht-Turm Bibel- und Traktatgesellschaft, Elberfeld, Deutschland“ zu richten seien. Die Gesellschaft war somit ab 1902 mit einer Adresse in Elberfeld vertreten.[2] Im Mai 1903 reiste der Präsident der Watch Tower Society nach Deutschland, um nach einem Gebäude zu suchen, das als Sitz des Zweigbüros und als zentrales Büro für andere europäische Länder dienen sollte. Russell schreibt: „Wir kamen nach Elberfeld, Deutschland – das bereits bestimmt war als der geeignetste Ort für das Zweigbüro der Watch Tower Bible and Tract Society für Deutschland, Frankreich, Schweiz, Italien, Dänemark usw. Wir trafen diese Wahl wegen der Charakteristik der Bevölkerung – religiös gesinnt und unabhängig. Unsere Kontakte mit den Leuten schienen das zu bestätigen.“ [3] Die besondere „religiöse Physiognomie“ [Seite 79] des Wuppertals beschrieb Wilhelm Langewiesche bereits 1863, wobei sich mancher Zuschauer „aus deutschen Verhältnissen heraus und in englische oder amerikanische Zustände versetzt glauben dürfte“. Andere Autoren bestätigen „das stark ausgeprägte religiöse Bewußtsein“ in Elberfeld (1925) oder bezeichnen Wuppertal sogar als „das deutsche Indien“ (1956).[4]
Russell beschreibt das angemietete Objekt, das ein Maklerbüro vermittelt hatte, wie folgt: „Darin befindet sich ein großer Raum, der für Zusammenkünfte geeignet ist, und der mit drei kleineren Räumen verbunden ist, passend für einige hauswirtschaftliche Arbeiten, und einer davon kann mit dem großen Raum vereint werden (durch das Öffnen von vier großen Türen), sofern das notwendig werden sollte. So könnten 150 Personen [d.h. bei Zusammenkünften] untergebracht werden. Es gibt auch ein Untergeschoß zum Lagern von einigen Tonnen Traktaten, Tagesanbruch [Bücherserie] usw. Der Standort ist hervorragend – in der Nähe des Postamts und Bahnhofs, und die elektrische Eisenbahn fährt in jeden Stadtteil. Und – ein wichtiger Punkt – die Miete ist niedrig.“ Der Präsident kam gleichzeitig mit 35 Bibelforschern aus dem Raum Barmen-Elberfeld und Umgebung zusammen, was eine beachtliche Gruppe darstellt. Seinen öffentlichen Vortrag am Abend hörten sogar etwa 100 Personen. Die Bibelforscher-Gruppe im Wuppertal war offenbar bereits vor der Eröffnung des Zweigbüros die größte in Deutschland und konnte die Wachtturm-Gesellschaft vor Ort unterstützen. Nach der Anmietung des Gebäudes im Mai 1903 gab „Zions Wacht-Turm“ im Juli 1903 seine Anschrift bekannt: „Mirkerstraße 45, Elberfeld“.
Der aus Kranichfeld gebürtige Otto Kötitz (1873–1916; meist „Koetitz“ geschrieben) war 1881 mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert, hatte sich dort den Bibelforschern angeschlossen und arbeitete ab 1892 im Watch-Tower-Hauptbüro, dem „Bible House“ in Allegheny, hauptsächlich als deutscher Übersetzer. Im Oktober 1903 sandte Russell ihn und seine Familie nach Elberfeld, um die Leitung des Zweigbüros zu übernehmen. (Seit Juni 1903 hatten dort bereits E. C. Henninges und seine Frau als Beauftragte der Watch Tower Society gearbeitet. Sie erhielten Aufgaben im neuen Zweigbüro in Australien.)[5] Damit begann eine intensivere und besser organisierte Missionierung in Deutschland. Nur drei Jahre später schrieb „Meyers Konversationslexikon“ (1906) über die Bibelforscher (hier fälschlich als „Millenniumsadventisten“ bezeichnet): „Sie treiben auf dem Kontinent eine rege Propaganda durch die ‚Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft‘ in Elberfeld […] (Zeitschriften: ‚Zions Wachtturm‘[…]). 1905 wurden 21 Mill. Traktatseiten verbreitet, dazu 6229 Bände. Ihre in dem von Russell verfaßten ‚Millenniumstagesanbruch‘ […] niedergelegte Glaubensanschauung gipfelt in einer Berechnung der Zeitalter, die für das Jahr 1914 das Tausendjährige Reich erwartet. In der gegenwärtigen ‚Erntezeit‘ werden die Auserwählten gesammelt, die Gottlosen werden später vernichtet. Organisiert ist die Gemeinschaft in losen Lokalvereinigungen; eine Statistik existiert nicht. Ihr Gesangbuch hat den Titel ‚Zionslieder‘ (1905).“[6]
Korrekt wird hier wiedergegeben, was die Gläubigen für 1914 erwarteten – den Beginn des Millenniums Christi. (Sie wurden oft als „Millenniumssekte“ verunglimpft.) Nachdem der „große Krieg“ ausgebrochen war, schrieb der „Wachtturm“ im Oktober 1914: „Die lange erwartete Erschütterung der sozialen Erde hat, wie wir glauben, bereits ihren Anfang genommen. […] In einem und demselben Atemzuge spricht sie [die Bibel] von Unglück und Segnungen – von Unglück über die Nationen, aber auch von großen Segnungen, die schließlich durch die neue Regierung des Messianischen Königreiches über die Menschheit kommen werden.“ Auch wenn die endgültige Erfüllung aussteht – die chiliastische, neutestamentliche Naherwartung des „Reiches Gottes“ auf Erden (Millennium) ist noch heute ein Merkmal der Glaubensgemeinschaft. Die im Neuen Testament angekündigte Parusie Christi, sein zweites „Kommen“, wird als unsichtbare „Gegenwart“ im Himmel in Königsmacht und als Frist (Endzeit) für die Welt verstanden, die 1914 begann (zunächst auf 1874 angesetzt) und der Vernichtung der Bösen (Harmagedon) und der [Seite 80] anschließenden tausendjährigen Friedensherrschaft (Millennium Christi) vorausgeht. Im Geiste von Matthäus 24,14 („Es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen“; Luther-Bibel) wurde ein außerordentliches Predigtwerk in Gang gesetzt.[7] Die Aussicht auf einen weltweiten Garten Eden ohne Krieg, Krankheit und Tod, wie ihn die ersten und letzten Seiten der Bibel schildern, faszinierte viele.
Die Bücher für das Bibelstudium, die Bände der „Millennium-Tagesanbruch-Serie“ (engl. 1886–1917; deutsch 1888–1919; ab 1908 „Schriftstudien“ genannt), wurden in den Vereinigten Staaten gedruckt und gebunden. Anders verhielt es sich mit den Zeitschriften, Traktaten und Broschüren in deutscher Sprache.
Von Anfang an stand im Impressum des „Wachtturms“: „‚Armen‘ umsonst“. Die Ausgaben vom Juli 1903 bis 1. Juli 1923 ließ man in kommerziellen Druckereien in Elberfeld herstellen – zuerst bei Albert Fastenrath, Mäuerchen 38, ab Dezember 1904 bei A. Martini & Grüttefien (vormals Baedekersche Buchdruckerei), Herzogstr. 33, und ab Juni 1909 bei der Firma Samuel Lucas (ebenso die Ausgabe November 1904). Eine Zeitlang (ab Januar 1900) kam die Zeitschrift nur alle drei Monate und acht Seiten stark heraus. Von Januar 1904 an erschien „Zions Wacht-Turm“ wieder monatlich, nunmehr in größerem Format, 16 Seiten stark und mit neuem Titelblatt. Ab April 1909 fehlt das Wort „Zion“ im Titel. (Seit Januar 1923 gibt es die 16seitige Zeitschrift zweimal im Monat; seit 1953 hat sie 32 Seiten.)
Viele „Wachtturm“-Probenummern verbreitete man über Tages- und Wochenzeitungen. So wurden 1904 Tausende deutsche Exemplare der November-Ausgabe als Zeitungsbeilagen verbreitet, worauf im Elberfelder Büro „viele erfreuliche Zuschriften“ eingingen. Man druckte auch die Februar-Nummer von 1905 mit dem Aufsatz „Der Tausendjährige Gerichtstag für ‚Schafe‘ und ‚Böcke‘“ in einer Auflage von 100.000 Exemplaren nach und stellte sie zur allgemeinen Verbreitung gratis zur Verfügung. In diesem Jahr gab es rund 1.500 bis 2.000 Leser des „Wachtturms“ in Deutschland, davon waren etwa 1.000 regelmäßige Abonnenten.
Es war anfangs außerdem üblich, den Inhalt von Traktaten und größeren Flugschriften (Broschüren) als Sondernummern der Zeitschrift herauszubringen. Die Verteilung von Traktaten spielte von Anfang an eine Schlüsselrolle bei der Aktivierung der Gläubigen zum Missionsdienst. Die kostenfreien Bibelforscher-Traktate (in Englisch seit 1880) tragen in Deutsch Titel wie „Arp’s Freude“ (1892) „Weisst Du?“ (1894), „Warum seid ihr die letzten, den König willkommen zu heißen?“ (1895), „Lehrt die heilige Schrift, dass ewige Qual ist der Lohn der Sünde?“ (1896), „Welches ist das wahre Evangelium?“ (1900), „Die Hoffnung der Unsterblichkeit“ (1902), „Wo sind die Toten?“ und „Was ist die Seele?“ (ca. 1903) sowie „Die alte Theologie. Speise für denkende Christen“ (ab 1906). „Diese [Traktate], sowie Exemplare des ‚Wachtturms‘ senden wir allen denen umsonst, die sie sorgfältig austeilen wollen. Sie werden aus einer allgemeinen Kasse bezahlt, welche als ‚Wachtturm-Traktatkasse‘ bekannt ist, und für welche nur freiwillige Beiträge willkommen sind“, heißt es (Juli/Sept. 1902). Bis Februar 1907 waren über 20 verschiedene Traktattitel vorhanden.
Um 1900 war der Missions- und Verkündigungsdienst („Predigtdienst“) der Bibelforscher somit hauptsächlich ein Verteilen von Gratistraktaten, vor allem an sonntägliche Kirchenbesucher. Dennoch mußte das Wachtturm-Büro in Elberfeld zwischen 1903 und 1908 die meisten Traktate noch als Beilagen in Zeitungen versenden lassen. Der „Wachtturm“ (Januar 1904) empfahl, „… Sonntags den von Versammlungen nach Hause gehenden Protestanten [Traktate] anzubieten; an Wochentagen den Schulkindern, in Geschäftshäusern Arbeitenden und den Markt Besuchenden. Wo eine Erlaubnis [Seite 81] seitens der Behörden nötig sein sollte, suche man persönlich um eine solche nach.“ Das „Traktatwerk“, auch „Freiwilligendienst“ genannt, wurde mit der Zeit auf die Verteilung von Haus zu Haus ausgedehnt, wobei man größere Druckschriften einschloß. (Auch die Mitarbeiter im Elberfelder Bibelhaus beteiligten sich sonntags am Haus-zu-Haus-Dienst.) Im Mai 1905 erschien der Artikel „Methode zum Kolportieren von Haus zu Haus“. Doch viele Bibelforscher überließen den Dienst von Tür zu Tür lieber den „Kolporteuren“[8] und beschränkten sich, anders wie heute, auf zufällige Kontakte, auf die Betreuung interessierter Personen, auf das Verteilen von Traktaten und die Unterstützung der öffentlichen Vorträge. Erst 1909 wurden nur noch 986.400 Traktate als Zeitungsbeilagen verbreitet, durch den persönlichen Einsatz von Freiwilligen jedoch über 2,6 Millionen Traktate! Dieser Übergang zum „Freiwilligenwerk“ sollte ein größeres Wachstum der Religionsgemeinschaft in Deutschland bewirken.
In Verbindung mit der Eröffnung des Zweigbüros in der Mirkerstr. 45 in Elberfeld war auch ein Versammlungslokal gemietet worden. Dort fanden jeden Sonntag Nachmittag, „Andacht, Predigt und Bibelstudium“ statt, und bis 1904 nahmen 50 bis 60 Bibelforscher regelmäßig daran teil. Im Dezember 1905 erteilte der „Wachtturm“ über Organisierung und Ablauf von Zusammenkünften besondere Unterweisung und führte die „Beröer Schriftlektionen“ ein – die Beantwortung biblischer Fragen anhand des „Wachtturms“ und der fünf Bände von „Millennium-Tagesanbruch“. Nun gab es im „Mirker Versammlungslokal“ sonntags solche Bibelstudien „unter der Leitung kompetenter Brüder“ (mit einer monatlichen Taufgelegenheit) und mittwochs eine „Erfahrungs- u. Gebetstunde“. Außerdem fand man sich zum Bibelstudium in Privatwohnungen zusammen, „sonntäglich ½ 10 Uhr vormittags und jeden Donnerstag Abend ½ 9 Uhr in Barmen, und jeden Dienstag Nachmittag um 4 Uhr in Elberfeld“.
Einmal im Jahr fand das „Gedächtnismahl“ oder Abendmahl des Herrn statt, wobei man mit Brot und Wein als Symbolen des Todes Christi gedachte. Die „Geschwister von Barmen und Elberfeld und Umgegend“ kamen dafür am 29. März 1904 in der Mirkerstr. 45 zusammen. Am 8. April 1906 zählte man bei der Feier in Elberfeld 90 Anwesende, mehr als in anderen Bibelforscher-Zentren, wie Wermelskirchen und Wanne (jeweils etwa 40), Königsberg (18), Dresden (17) oder Berlin (5). Im folgenden Jahr, am 28. März 1907, waren bei der Feier in Barmen-Elberfeld 90 bis 100 Teilnehmer, die anschließend (29. März bis 1. April 1907), eine „Hauptversammlung“ abhielten. Neben den kleinen, regelmäßigen gottesdienstlichen Zusammenkünften gab es solche Hauptversammlungen oder größere Kongresse. Der erste Kongreß dieser Art in Deutschland fand in Elberfeld vom 23. bis 24. April 1905 im „Alten Vereinshaus“ an der Casinostraße mit 150 Teilnehmern statt, wobei etliche Brüder „aus der Ferne“ kamen, die meisten aber aus dem Wuppertal. In der Ankündigung (April 1905) heißt es: „Voraussichtlich werden am Ostersonntag vier oder fünf Ansprachen gehalten werden mit dazwischenliegenden Gelegenheiten für Fragen usw. Montag Vormittag wird in der Mirkerstraße 45 eine Taufgelegenheit geboten werden, früh genug, um kurz darauf für eine Ansprache Zeit übrig zu lassen. Montag nachmittag findet sodann unter anderem im großen Vereinssaal ein öffentlicher Vortrag statt mit öffentlicher Beantwortung von Fragen, und voraussichtlich noch andere Ansprachen besuchender Brüder, wie tags vorher.“
Gottesdienstliche Zusammenkünfte und Kongresse bilden bis heute einen festen Bestandteil der Glaubensgemeinschaft.
Das Elberfelder „Watch Tower“-Büro behielt bis Januar 1908 seinen Sitz in der Mirkerstraße 45 und zog dann nach Barmen, wo es sich vorübergehend (bis März 1909) in der Wertherstraße 39 befand. Damit lag der Sitz der Religionsgemeinschaft auf der „Werth“ (Flußinsel) – seit Generationen das Herz der Barmer City. [9] Wegen Abbruch des Hauses Wertherstraße 39 erfolgte ein Jahr später erneut ein Umzug, diesmal einige Straßenzüge [Seite 82] weiter. Ab 1. April 1909 und für rund 15 Jahre sollte das Bibelhaus (später auch „Bethel“ genannt) und das Versammlungslokal der Ortsgemeinde Barmen seinen Standort in der Unterdörnerstraße 76 haben. Über das von der Firma Benrath angemietete Gebäude schreibt Phoebe Koetitz (geb. 1904 in Elberfeld), die Tochter des Landesleiters: „Dieses Haus hatte ein großes Wohnzimmer, das als Aufenthaltsraum und Speisesaal für die Bethelfamilie benutzt wurde. Dahinter lag eine große Küche. Neben diesen Räumen war ein Korridor, der zum hinteren Teil und zu den Büros und dem Lager sowie zur Versandabteilung führte. Im ersten Stock lag der Königreichssaal [„Versammlungslokal“ der Gemeinde] sowie zwei Zimmer, die uns als Schlaf- und Wohnzimmer dienten. Auf der dritten Etage waren die Schlafräume für die Brüder, die im Bethel [Bibelhaus] arbeiteten.“[10] Der Versammlungsraum wurde sonst als Büro genutzt und konnte durch eine Flügeltür geteilt werden.
Es fielen vor allem Übersetzungs-, Verwaltungs- und andere Büroarbeiten sowie Expeditionsaufgaben an, hinzu kam die hauswirtschaftliche Versorgung der Belegschaft. Die Verwaltung erhielt zum Beispiel 1911 über 6.330 Zuschriften und versandte über 3.400 Briefe. Neben Landesleiter Otto Koetitz waren die hauptamtlichen Mitarbeiter Max Cunow (seine Tochter Christa übersetzte zusammen mit Koetitz aus dem Englischen), Reinhard Blochmann, Heinrich Dwenger, Robert Basan und Walter Hellmann. Im Versandraum für Wachtturm-Literatur arbeiteten F. Heß, in der Küche die Ehefrauen von Koetitz und Cunow. Alle Mitarbeiter bildeten eine geistliche „Familie“, über die es im Januar 1915 heißt: „Im Bibelhause in Barmen versammelt sich die Familie jeden Morgen gegen 7 Uhr zur Andacht, lauscht nach Schluß des Gesanges der Vorlesung des ‚Manna-Textes‘ für den betreffenden Tag und vereinigt sich im Gebet.“ (Das Buch „Tägliches himmlisches Manna. Eine Sammlung von Schriftstellen mit Auslegungen aus dem Wacht-Turm für jeden Tag des Jahres“ – seit 1910 in Deutsch vorhanden und gedruckt von der Firma Lucas in Elberfeld – wurde erst 1927 durch das jährlich erscheinende „Jahrbuch der Zeugen Jehovas“ ersetzt.)
Von Barmen aus kamen große Mengen Wachtturm-Literatur zum Versand. Gemäß dem Jahresbericht für 1909 gehörten dazu rund 8.000 Bände der „Schriftstudien“ (engl. seit 1905, „Studies in the Scriptures“), die bis 1922 das maßgebliche Bibelstudienhilfsmittel der Glaubensgemeinschaft waren. Sie umfaßten inzwischen sechs Bände: „Der Plan der Zeitalter“ (Bd. 1), „Die Zeit ist herbeigekommen“ (Bd. 2), „Dein Königreich komme!“ (Bd. 3), „Der Tag der Rache“ (Bd. 4), „Die Versöhnung des Menschen mit Gott“ (Bd. 5) und „Die neue Schöpfung“ (Bd.6). Der siebente Band, „Das vollendete Geheimnis“, kam 1919 (engl. 1917). Ein „Bücherfeldzug“ verhalf dem Band zu einer weiten Verbreitung und erregte dadurch, daß er mit der Geistlichkeit der Christenheit ins Gericht ging, großen Unwillen auf seiten des Klerus (vor allem in Amerika). Alle Bücher wurden noch immer in den Vereinigten Staaten gedruckt, da man sie, wie betont wurde, in Deutschland selbst nicht billiger herstellen könne.
Über 3.000 Abonnenten erhielten 1909 monatlich den „Wachtturm“ (etwa 600 gratis), so daß auf mindestens 5.000 deutsche Leser geschlossen wurde. Insgesamt wurden über 38.200 Exemplare und 91.700 Probenummern der Zeitschrift versandt. 1911 gingen bereits fast 40.000 Exemplare der Zeitschrift an Abonnenten in Deutschland. (In den Vereinigten Staaten, dem größten Bibelforscher-Zweig, gab es damals zwischen 30.000 und 50.000 Leser des „Watch Towers“.) Ab Mai 1913 stand der „Wachtturm“ zusätzlich in Blindenschrift zur Verfügung. (Das Barmer Büro rief für blinde Wachtturm-Leser im Oktober 1922 sogar einen besonderen Versanddienst ins Leben.)
Zu den Flugschriften oder „kleinen Zeitungen“ (einige im Abonnement, jährlich 20 Pfg.), die hauptsächlich als Gratisschriften nun an Stelle der Traktate landesweit an Bibelforscher für das Missionieren ausgegeben wurden, gehörten „Die alte Theologie. Speise für denkende Christen“ (1906–1918), „Die Volkskanzel“ (1910–1912), „Jedermanns-Blatt“ (1912–1914 [?]), „Der Bibelforscher“ (1910–1918), „Der Schriftforscher“ (1916–1922 [?]) und „Der Fall Babylons“ (1919). Allein 1911 [Seite 83] fanden 2.238.000 Traktate „Volkskanzel“ Verbreitung. Daneben gehörte zu den Missionierungsmethoden der Bibelforscher das Absetzen von Broschüren gegen geringe Unkostenbeiträge. Der Jahresbericht nennt für 1911 den Absatz von über 12.000 Broschüren (einschließlich Wachtturm-Sondernummern). Zu den ersten Broschüren gehören „Die Stiftshütte und die besseren Opfer“ (ca. 1899, 1903), „Die Bibel gegen die Evolutions-Theorie“ (1901) und „Was sagt die Heilige Schrift über die Hölle?“ (1902). Sie wurden im Auftrage der Wachtturm-Gesellschaft von den Buchdruckereien Samuel Lucas und Martini & Grüttefien in Elberfeld sowie von Julius Brandstätter in Leipzig produziert.
Kleinere Druckaufträge konnte das Bibelhaus bereits ab 1914 auf einer eigenen Druckpresse erledigen. Hans Hölterhoff, dessen Eltern in Elberfeld wohnten, schreibt über diese Zeit: „Wir waren ca. 6 bis 9 Personen immer im Bethel. Bruder Drämer und ich waren an einer Flachpresse beschäftigt, um Bekanntmachungs- und Propagandaschriften zu drucken.“ Die Herstellung bibelerklärender Schriften wurde als Gottesdienst betrachtet, ebenso die freiwillige Mitarbeit im Bibelhaus.
In die Barmer Zeit der Wachtturm-Gesellschaft fällt die Organisierung von Besuchen in vorgesehenen „Gruppen“ (Gemeinden) durch einen Vortragsredner oder Vertreter der Religionsgemeinschaft, damals „Pilgerbruder“ genannt. Landesleiter Otto Koetitz hatte solche „Pilgerbesuche“ bereits seit 1905 von Zeit zu Zeit durchgeführt, doch ab Januar 1910 wurde er von Hermann Herkendell (1889–1926) unterstützt, der nun als ständiger Pilgerbruder oder reisender Ältester diente. Herkendell „wird voraussichtlich Berlin, Bromberg, Königsberg, Danzig, Stettin, Hamburg, Bremen, Oldenburg, Bielefeld, Barmen berühren“, hieß es im Dezember 1909, und Wachtturm-Leser „von allen Ortschaften in der Nähe oder auf dem Wege der genannten Städte, wie überhaupt aus ganz Deutschland“, wurden gebeten, sich im Bibelhaus zu melden.
Nach dem Umzug des Büros in die Unterdörnerstraße 76 in Barmen fanden die jährlichen regionalen Hauptversammlungen zunächst noch in „Barmen-Elberfeld“ (ab 1912 in Barmen) statt, meist im März oder April, und sie wurden auch gern von Bibelforschern aus anderen Landesteilen besucht. Mit der Zeit waren größere Räumlichkeiten für die dreitägigen Kongresse nötig. Die Osterhauptversammlung vom 15. bis 17. April 1911 in Barmen-Elberfeld fand „im oberen Saal der in den Anlagen gelegenen Stadthalle“ statt. Am Ostermontag gab es eine Taufgelegenheit und 17 Personen („8 Brüder und 9 Schwestern“) unterzogen sich dem Taufakt. Mehr als 150 der Anwesenden kamen von weiter her – aus Süd-, Ost- und Norddeutschland sowie der Schweiz. Über die Pfingsthauptversammlung in Barmen vom 4. bis 8. April 1912 berichtete Otto Koetitz im Mai: „Brüder aus Berlin, Leipzig, Mühlhausen, Tailfingen, Hamburg, Kiel, Siegen und dem Rheinland beteiligten sich mit Ansprachen und Gebeten an den Schriftbetrachtungen, während andere uns ihre Erlebnisse mitteilten, teils wie sie ‚aus der Finsternis in das wunderbare Licht‘ versetzt wurden […] Wir gedachten der mehr als 10.000 Geschwister in aller Welt, die dem Herrn gelobt haben, täglich seines ganzen Volkes und des Erntewerkes, besonders auch der Geschwister in Brooklyn [Wegzug von Allegheny 1909], einschließlich Bruder Russells, zu gedenken.“ Die jährlich steigenden Zahlen von Besuchern der Bibelforscher-Kongresse im Wuppertal belegen das Wachstum der Gemeinschaft: 1909 (9.–12.4.): 200 Zuhörer; 1910 (25.–27.3.): 250 Zuhörer, 13 Täuflinge; 1911 (15.–17.4.): 17 Täuflinge (Zahl der Besucher nicht genannt); 1912 (4.–8.4.): 200–260 Zuhörer; 1913 (20.–24.3.): 300–350 Zuhörer, 22 Täuflinge; 1914 (10.–13.4.): 600–700 Zuhörer, 55 Täuflinge.
Die Mehrung spiegelte sich auch in den Teilnehmerzahlen des jährlichen Gedächtnismahls wider, das im engsten Kreis stattfand. Etwa 120 Teilnehmer besuchten die Feier 1908 (14. April) im Barmer Versammlungslokal, Wertherstraße 39. Drei Jahre später, am 11. April 1911, sind in der Unterdörnerstraße 76 etwa 125 Personen zu dem besonderen Anlaß [Seite 84] anwesend, weit mehr als in Berlin (60) oder Hamburg (16). Im Jahre 1912 (31. März) kamen zum jährlichen Abenmahl 150 Personen – weit mehr als in Berlin (105) oder Siegen (53). Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges erlebte Barmen einen Besucherrekord von 500 Anwesenden anläßlich der Jahresfeier am 10. April 1914. Soweit damals Berichte eingingen, haben in Deutschland 1.440 Bibelforscher das Gedächtnismahl gefeiert.
Größere Außenwirkung erzielten die öffentlichen Bibelforscher-Vorträge. Ansprachen des Präsidenten der Watch Tower Society, der aus Amerika anreiste, erregten besonderes Interesse. Anläßlich einer Deutschlandreise war Charles T. Russell am 27./28. Mai 1909 in Barmen-Elberfeld, wo er vor etwa 1.000 Personen sprach, und bei der Abendversammlung mit ihm waren 300 Bibelforscher anwesend. Zwei Jahre später, am 13. April 1911, sprach Russell zunächst im Bibelhaus in Barmen, bevor er danach wahrscheinlich zur Elberfelder Stadthalle gebracht wurde. „Am Nachmittag und Abend folgten die angekündigten Vorträge unter ziemlich großer Beteiligung, sowohl der Geschwister, als auch fremder Leute“, heißt es im Mai 1911, wobei der Präsident gleichzeitig in seinem englischen Reisebericht bemerkt, daß „die Geschwisterzahl und ihr Interesse zunehme, aber er sei enttäuscht in der Gesamtzahl der Interessierten, wenn die große Bevölkerung und die Anstrengungen und die angewandten Geldmittel in Betracht gezogen werden“. Russells dritte Europareise führte ihn im August 1912 erneut nach Deutschland. Seinen Vortrag „Jenseits des Grabes“, den er in verschiedenen Städten hielt, hörten jeweils 1.500 bis 2.000 Personen, und am 20. August 1912 waren es über 700 Anwesende in Barmen. Seinen Rechtsberater Joseph F. Rutherford (der spätere, zweite Präsident der Gesellschaft), der Deutschland und die Schweiz vom 4. bis 18. September 1913 bereiste und an vielen Orten die Ansprache „Wo sind die Toten?“ hielt, hörten in Elberfeld etwa 2.500 Personen.
Vorträge für die Öffentlichkeit, wie sie erstmals im Januar 1904 angekündigt wurden, hielten außer dem Präsidenten und seinem Vertreter ursprünglich nur die beauftragten reisenden Ältesten oder Pilgerbrüder. Das Thema des Vortrages, den Otto Koetitz am 3. März 1910 in Barmen hielt, lautete „Der Tag der Rache – 1915“. 1.200 Zuhörer füllen den Saal, weitere 1.000 Personen fanden keinen Einlaß. Der „Barmer Anzeiger“ schrieb: „Die Botschaft hör‘ ich wohl; allein mir fehlt der Glaube.“ Die „Westdeutsche Volkszeitung“ schloß ihren Bericht mit den Worten: „Wir werden also wohl die Millenniumsleute bis 1915 noch zu ertragen haben.“[11] (Mit der Zeit hielten auch Älteste aus den Ortsgemeinden Vorträge für die Öffentlichkeit, so Anfang der 1920er Jahre das Thema „Die Welt geht zu Ende – Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben“.)
Am vorletzten Kongreßtag einer Hauptversammlung in Barmen wurde am 12. April 1914 den über 600 Anwesenden „eine Überraschung zuteil, nämlich die photo-dramatische Darstellung der Geburt und der Leidensgeschichte unseres Herrn, die einen tiefen Eindruck auf viele Herzen machte. Auch wie Jesus auf dem Meer wandelte und die Auferweckung des Sohnes der Sunamitin und der Auszug der Kinder Israel aus Ägypten waren geeignet, unsern Glauben zu stärken“, wie ein begeisterter Zuschauer im Mai 1914 schrieb. Das von Russell unter hohem Kostenaufwand entwickelte „Photo-Drama der Schöpfung“ bediente sich einer neuartigen Methode. Er ließ Lichtbilder und Filme gleichzeitig verwenden und sie mit Musikplatten und Phonographsprechplatten synchronisieren. Die kostenlose Vorführung (vier Teile von je zwei Stunden), führte die Anwesenden mittels Bild und Ton durch die Bibel – von der Schöpfung zu den Patriarchen, von der Geschichte Israels zu Jesus Christus und schließlich visionär zu seiner verheißenen tausendjährigen Friedensherrschaft (Millennium).
Einige Monate nach der Premiere der englischen Originalfassung im Januar 1914 in New York trafen in Deutschland die ersten Filme, Lichtbilder und Anleitungen ein. Nach der ersten Vorführung in Barmen konnte das „Photo-Drama“ den 450 Bibelforschern der [Seite 85] Hauptversammlung in Dresden (31. Mai bis zum 2. Juni 1914) vorgeführt werden. Die Barmer Zentrale kündigte an, das Drama „voraussichtlich Mitte August in einigen Städten erstmalig in Deutschland zur Aufführung kommen“ zu lassen. Die restliche Ausrüstung traf im Juli 1914 in Barmen ein. Sofort sah man eine Vorführung in Elberfeld vor, und kurz darauf war das Drama in der überfüllten Stadthalle zu sehen. Drei Wochen später, im August 1914, begann der erste Weltkrieg, was den Start der öffentlichen Vorführungen, die an drei verschiedenen Orten stattfinden sollten, offenbar verzögerte. Vom 1. bis zum 23. November 1914 zeigte die Barmer Bibelforscher-Vereinigung das „Photo-Drama“ zweimal täglich in Berlin in der „Philharmonie (in der Nähe des Potsdamer Platzes)“ vor einem überfüllten Haus und das insgesamt fünfmal (vier Teile an vier aufeinanderfolgenden Tagen). Besonders der dritte Teil, „Der Leidensweg Jesu“, ergriff die Zuschauer.
Ungeachtet des Weltkrieges war das „Photo-Drama“ 1914 und 1915 auch in anderen großen Städten wochenlang kostenlos zu sehen, wie in Düsseldorf und in Essen, wo es vormittags Schulklassen und nachmittags den Erwachsenen gezeigt wurde. Im selben Jahr gab die Vereinigung in Barmen von den vier Teilen des „Photo-Dramas“ Kunstblätter (Photodrama-Textblätter) und eine Zusammenfassung des Programms in Buchform heraus. Da die Aufführungen in großen Häusern sehr kostspielig waren, wurden sie bald – nicht anders wie in den Vereinigten Staaten – in kleinerem Rahmen durchgeführt, wobei 1915 die Besucherzahlen zwischen 50 und 150 Anwesenden lagen und Otto Koetitz die Vorführungen bis 1916 leitete.
Das berühmte „Photo-Drama der Schöpfung“ erlebte 1920 seine größte Zeit. Nachdem die beweglichen Bilder verbraucht waren, entstand das „Eureka-Drama“, eine überarbeitete, verkleinerte Fassung ohne Filme (ab 1922). Das Drama wurde 1927 – inzwischen war die Zentrale von Barmen nach Magdeburg umgezogen – vollständig überarbeitet und erhielt den Namen „Schöpfungsdrama“. Vom alten „Photo-Drama“ waren nur die Glasbilder übriggeblieben; die Texte stammten aus dem neuen Buch der Wachtturm-Gesellschaft „Schöpfung“. Nachdem das „Schöpfungsdrama“ bis Mai 1932 über 680.000 Besucher an 209 Vorführorten in Deutschland gesehen hatten, wurden die Vorführungen eingestellt.[12]
Nach Ausbruch des „großen Krieges“, mit dem eine Abschnürung Deutschlands vom Ausland einherging, schrieb Bibelhaus-Leiter Otto Koetitz im September 1914: „Die lieben Leser des ‚Wachtturms‘ und der ‚Schriftstudien‘ von Bruder Russell haben diese Trübsal vorhergesehen und erwartet. […] Unsere Verbindungen mit Amerika und Bruder Russell sind wie abgeschnitten; […] Wir hoffen, daß diese Nummer noch die meisten Geschwister erreicht.“ Doch der Betrieb im Bibelhaus ging zunächst ungehindert weiter. Schließlich erreichte auf Umwegen das Büro ein Brief Russells, in dem er am 2. Oktober 1914 schrieb: „Wir freuen uns über den Fortgang des Werkes des Herrn in Deutschland – daß das Werk durch den Krieg nicht ernstlich unterbrochen worden ist.“
Schwierigkeiten anderer Art traten auf. Ewald Vorsteher[13] aus Barmen und andere Älteste, die gern selbst die Leitung übernommen hätten, beschuldigten Koetitz aufgrund eines Fauxpas und der Verwendung von Geldern für das „Photo-Drama“ unverhältnismäßig heftig, worauf es Russell vorzog, seinen Mitarbeiter zunächst an anderer Stelle einzusetzen. Ab Februar 1915 diente Koetitz, der ohnehin gesundheitlich sehr angeschlagen war (er wurde offensichtlich vom Militärdienst befreit), nicht mehr als Landesleiter und Wachtturm-Redakteur, sondern begann, wie oben erwähnt, als Pilgerbruder mit dem „Photo-Drama“ zu reisen. Die Integrität von Koetitz erhielt eine Bestätigung als er bald (wenige Monate vor seinem Tod am 24. September 1916 mit 43 Jahren) einem von Russell eingesetzten „Leitungskomitee“ für Deutschland angehörte, das von Februar bis Juli 1916 bestand und zu dem noch Bibelforscher aus Dresden (Hermann [Seite 86] Herkendell, Emil Wetzel und Alfred Zimmer) und Wermelskirchen (Karl Wellershaus) gehörten. Im Mai 1916 wies das Komitee darauf hin, daß „der Gebrauch von Geldern für das Photodramawerk“ völlig korrekt abgelaufen sei, „wie sämtliche Geschäftsbücher nachweisen“.
Im September 1915 gab Fritz Christmann (bis Januar 1916 verantwortlicher Wachtturm-Redakteur) bekannt, daß die Gesellschaft gezwungen sei, den „Geschäftsbetrieb ab 15. September ds. Js. auf ein Mindestmaß einzuschränken“. Man gedachte, das Bibelhaus aufzulösen, Korrespondenzen nur in Ausnahmefällen zu beantworten, „und im übrigen monatlich den ‚Wachtturm‘ als unsre Kundgebung an sie [d.h. an die Bruderschaft] zu betrachten.“ Tatsächlich wurde der kleine Geschäftsbetrieb nach dem Ausscheiden von Koetitz vorübergehend stillgelegt. Doch schon im Oktober 1915 hieß es: „Nach Vereinbarung mit unserem Hausbesitzer haben wir unser Kontor im Hause: Unterdörnerstraße 76 beibehalten. Wir bitten daher, alle Postsendungen nach wie vor dorthin gelangen zu lassen. Mit der in der vorigen Nummer angekündigten Einschränkung werden wir die Geschäfte der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft weiter führen und für das Weitererscheinen des ‚Wachtturm‘ Sorge tragen, solange der Herr uns hierzu die Möglichkeit gibt.“
Der Weltkrieg brachte mit der Zeit weitere Einschränkungen und eine erhebliche Preissteigerung für die Herstellung des „Wachtturms“. Dazu kam offensichtlich eine behördliche Kontrolle der Druckschriften, da die Titelseiten der Wachtturm-Ausgaben vom Juli 1917 bis August 1918 einen kleinen Stempelaufdruck – offenbar das Zeichen der Genehmigung durch die staatliche Zensur – tragen. (Währenddessen wurde in den Vereinigten Staaten eine eigene deutsche Ausgabe des „Wachtturms“ für die dortigen Leser herausgebracht.) Um Platz zu sparen erschien die Zeitschrift Ende 1917 nur noch 12 Seiten stark, ab März 1918 meist achtseitig (bis August 1918) und ohne Titelblatt. Wegen Papiermangel erschien die letzte Ausgabe für 1918 als Dreimonatsheft (12 Seiten stark).
Die Einberufungen zum Militärdienst schlugen große Lücken in die Reihen der Bibelforscher, hinzu kamen zivile Todesfälle und andere Umstände, so daß die Leitung der Zentrale in Barmen während des Krieges mehrfach wechseln mußte. Im Oktober 1916 übernahm der Pilgerbruder Paul Balzereit (1885–1959) aus Kiel vorübergehend die Verantwortung.[14] Vom Februar 1917 bis Januar 1918 leitete Hermann Herkendell das deutsche Bibelforscher-Werk, nachdem er aus einer Nervenheilanstalt, in die man ihn als Kriegsdienstverweigerer zur Strafe verbannt hatte, entlassen worden war. Ungeachtet der Kriegssituation konnten die Besuche der Gemeinden innerhalb Deutschlands durch die Pilgerbrüder, die abwechselnd als Vortragsredner dienten, fortgesetzt werden, nämlich durch Hermann Herkendell (1915, 1918), Bernhard Buchholz (1915), Max Cunow (1916, 1917), Paul Balzereit (1916–1918), Karl Wellershaus (1917, 1918) und Emil Zellmann (1917, 1918).
Zudem war es möglich, einige öffentliche Hauptversammlungen und kleinere Bibelforscher-Kongresse (Tagesversammlungen) zu organisieren, was sehr begrüßt wurde, „zumal jetzt, da so viele der lehrenden Brüder fehlen, damit auf diese Weise die noch vorhandenen Arbeiter [missionierende Bibelforscher] weiteren Geschwisterkreisen leichter dienen könnten“, heißt es. Am 4. April 1915 besuchten über 200 Bibelforscher die Oster-Tagesversammlung in der Stadthalle von Barmen. Am 23. Mai 1915 fanden größere Tagesversammlungen in Barmen (Hotel Hegelich, Allestr. 31), Stettin, Kiel und Bremen statt, und am gleichen Tag begann in Dresden (bis 25. Mai 1915) eine Hauptversammlung. Für Barmen und Umgebung plante man keine Hauptversammlung in den Kriegsjahren 1916 (anders in Dresden, Leipzig und Kiel) und 1918 (nur kleinere Kongresse in Kiel, Chemnitz, Stuttgart), was mit den Einschränkungen im Bibelhaus zu tun haben mochte. Dennoch kamen die Bibelforscher 1916 auch in Barmen zu anderen gottesdienstlichen Zusammenkünften zusammen, so am 16. März 1916 zur jährlichen Gedächtnismahlfeier. Die geographische Verteilung der insgesamt 1.423 Teilnehmer dieser Feier in Deutschland (soweit Berichte vorliegen) zeigt jedoch, daß die Bibelforscher in [Seite 87] anderen Städten die Gruppe in Barmen (50 Teilnehmer) zahlenmäßig überrundet hatten, vor allem in Berlin (130 Teilnehmer), Dresden (111), Kiel (110), Hamburg (87), Leipzig (86), Stettin (75) und Chemnitz (54).
Im Herbst 1916 verstarb nicht nur der deutsche Leiter der Wachtturm-Gesellschaft Koetitz, sondern in den Vereinigten Staaten auch Präsident Russell am 31. Oktober. Viele betrachteten Russell als das christliche Leit- und Vorbild eines opferbereiten Bibelforschers par excellence (vergleichbar etwa mit Luther), der mit Gottes Segen die Führung im irdischen „Werk des Herrn“ und in der Bibelauslegung innehatte. Nach seinem Tod sahen einige keine Perspektive für das Fortschreiten der Bibelexegese, und eine Anzahl sonderte sich ab oder verließ die Gemeinschaft. (Eine größere Abkehr setzte allerdings nach den enttäuschten Erwartungen in Verbindung mit den Jubeljahren 1914 und 1925 ein, da sich etliche vom Ende der alten bösen Welt und dem Anbruch der messianischen sorgenfreien neuen Welt persönliche Vorteile versprochen hatten.) Eine Mehrheit behielt ihre Verbundenheit mit der Watch Tower Society als Leitungsorgan der Glaubensgemeinschaft, nunmehr unter dem neuen und seit Februar 1917 eingesetzten Präsidenten Joseph F. Rutherford (1869–1942). Unter seiner Leitung gab es neue Impulse für das Evangelisierungswerk. Auf dem Programm der Barmen Hauptversammlung vom 27. bis 29. Mai 1917 stand daher die Erläuterung des „Wachtturm“-Artikels „Weltweites Pastoral-Werk“. Das „pastorale Werk“ war eine neue Initiative der Evangelisation durch Glaubensschwestern und zielte darauf ab, Personen, die Bibelforscher-Vorträge besucht oder sonstwie Interesse bekundet hatten, erneut zu kontaktieren, mit Studienmaterial leihweise zu versorgen und die Verbindung zur lokalen Gemeinde herzustellen.
Bis zum Ende des Weltkrieges waren neben dem „Wachtturm“ verschiedene Bände der „Schriftstudien“ verfügbar, hinzu kamen mehrere Broschüren- und Traktattitel. Außerdem war über das Bibelhaus die „Elberfelder Bibel“ vom Brockhaus-Verlag erhältlich, die bis in die Neuzeit weite Verbreitung unter Jehovas Zeugen fand, solange sie den göttlichen Eigennamen – in Hebräisch JHV(H) – mit „Jehova(h)“ statt mit „HERR“ wiedergab.
[Seite 87]
Der Krieg brachte viele wehrpflichtige Bibelforscher in Konflikt, da sie einerseits der irdischen Obrigkeit gemäß Römer, Kapitel 13, Respekt und Gehorsam schuldeten („Jedermann sei untertan der Obrigkeit“), andererseits dem Gebot der Obrigkeit Gottes, „Du sollst nicht töten“, verpflichtet waren. Der sechste Band der „Schriftstudien“ („Die Neue Schöpfung“, Druck 1906; Vorabdruck im „Wachtturm“ ab 1904; Studium des Materials in den Gemeinden ab 1913) skizziert die Konsequenzen: „Nicht alle Regierungen freilich entheben diejenigen, welche den Krieg für Unrecht halten, vom aktiven Kriegsdienst; allein sie lassen doch da und dort gewisse Rücksichten walten; z.B. durch Verwendung solcher Leute in den Sanitäts- oder Verwaltungstruppen. Sollte aber eine Neue Schöpfung [d.h. ein wiedergeborener Christ] zum Dienst an der Linie beordert werden, so hätte sie dem Befehl zu gehorchen und anzunehmen, daß der Herr, der dies zugelassen, dadurch irgend etwas Gutes für den Ausgehobenen oder für andere wirken will. Gelingt es in diesem Falle nicht, sich zu den Sanitätstruppen versetzen zu lassen, indem man seine Grundsätze den zuständigen Beamten kurz mitteilt, so bleibe man in der Linie, aber erinnere sich, daß dem Befehl, einen Nebenmenschen niederzuschießen, Gehorsam nicht geschuldet ist.“[15]
Bis November 1915 waren insgesamt etwa 350 deutsche Bibelforscher beim Militär. Das Barmer Büro bemühte sich, „die lieben Brüder [im Felde] durch besondere Briefe und Druckschriften zu ermuntern und zu erfreuen“. Der „Wachtturm“, den die Eingezogenen auf Wunsch umsonst erhielten, veröffentlichte wiederholt ihre Feldpostbriefe religiösen Inhalts sowie Listen mit Namen von Bibelforschern, die Grüße aus dem Feld sandten, ab September 1915 die von Gefallenen. Unter denen, die Grüße sandten, waren die [Seite 88] Bibelhausmitarbeiter Robert Basan und Heinrich Dwenger, die den Dienst mit der Waffe konsequent verweigerten. Solche Fälle von Dienstverweigerung waren keine Seltenheit. (Eine Anzahl Bibelforscher wurden, wie Hermann Herkendell, in Nervenheilanstalten gesperrt.) Zu den „Totalverweigerern“, die erhebliches Aufsehen erregten, gehörte der Bibelhausmitarbeiter Hans Hölterhoff, dessen Eltern in Elberfeld, Kleeblattstraße wohnten. Er wurde zunächst der Offizierskantine eines Feldartillerieregiments als Koch zugeteilt. Als er den Dienst an der Front ablehnte, verurteilte man ihn zu zwei Jahren und vier Monaten Festungshaft, die er in Köln verbrachte. Dort weigerte er sich, Schützengräben und Stacheldrahtzäune zu bauen oder Uniformen zu nähen. Daraufhin führte man eine Scheinexekution durch, ohne ihn umstimmen zu können. Die Revolution in Köln bewirkte 1918 seine Befreiung, und er kehrte zunächst in sein Elternhaus in Elberfeld und dann ins Barmer Bibelhaus zurück.
Es waren die zahlreichen Dienstverweigerer unter den Bibelforschern, die staatliche Stellen in Deutschland besonders gegen Ende des Weltkrieges auf die Religionsgemeinschaft aufmerksam machten. (Das als provokativ empfundene kirchenkritische, antiklerikale Potential in den Bibelforscher-Schriften rief dagegen kirchliche Stellen auf den Plan.) Das kaiserliche Kriegsministerium bat im April 1918 das evangelische Konsistorium, mit „wachsamem Auge die Tätigkeit dieser Sekte zu beobachten“, worauf die Kirchenbehörde die Pfarrer aufforderte, „ihre Beobachtungen über die gefährliche Tätigkeit dieser Sekte“ zu berichten. Das staatliche Begehren nach Informationen über die Bibelforscher sollte Anfang der 1920er Jahre zur Gründung der Vorläufer der „Sektenreferate“ bei den Großkirchen führen, und deren „Aufklärungsschriften“ – meist kirchliche Varianten der „völkisch-antisemitischen Schmähschriften“ – sind Beispiele „für die Verirrungen, die in der Frage der Bewertung der Bibelforscherlehre in die theologische Wissenschaft Einzug hielten“, stellt Historiker Detlef Garbe fest.[16]
Auch Militärdienststellen sahen sich veranlaßt, etwas gegen die Bibelforscher zu unternehmen. So wurden 1918 die beiden Versammlungsräume der über 200 Berliner Bibelforscher in der Badstraße 32 und Brunnenstraße 24 polizeilich geschlossen und versiegelt. Der in Berlin stationierte Bibelforscher Emil Bente aus Barmen, Jägerstraße 4, fühlte sich am 29. August 1918 aus eigenem Antrieb veranlaßt, eine Eingabe an den obersten Kriegsherrn Kaiser Wilhelm II. zu richten, „da von einigen Oberkommandierenden unsere Versammlungen verboten worden sind – so auch hier in Berlin – und weil einige unserer Brüder wegen Predigens inhaftiert worden sind“, „andere [wurden] zu Geldstrafen verurteilt, weil sie predigen“. Bente spielte die Dienstverweigerungen allerdings herunter als er schrieb: „Wenn einige unserer Brüder den Waffengebrauch verweigern, weil Sie sich sagen, daß die Schrift lehrt: ‚Du sollst nicht töten’, […] so ist das meines Erachtens doch kein Grund, uns unsere Versammlungen zu verbieten, in welchen doch so etwas nicht dogmatisch gelehrt wird, was zur Genüge damit bewiesen ist, daß viele unserer Brüder im Felde sind.“[17]
Die zeitgenössische psychiatrische Literatur beschäftigte sich relativ ausführlich mit der Kriegsdienstverweigerung von Bibelforschern.[18] Eine detaillierte Studie über ihr Verhalten im ersten Weltkrieg sowie über Formen und Umfang der Dienstverweigerungen steht noch aus.
Im November 1918 endete der „große Krieg“ beispielloser Zerstörungen und sozialer Erschütterungen. In das Bibelhaus in Barmen kehrte bald Normalität ein, da die wachsenden Bibelforscher-Gemeinden mit Wachtturm-Literatur für Bibelstudium und Missionierung versorgt sein wollten. Seit Januar 1919 erschien der „Wachtturm“ wieder als 16seitige Ausgabe und mit gewohnter Titelseite. Waren im Kriegsjahr 1914 landesweit 1.440 Anwesende beim Gedächtnismahl gezählt worden, so nahmen am 13. April 1919 insgesamt 3.450 Personen daran teil – eine Zunahme von 139 Prozent. Doch blieb Barmen-Elberfeld mit 103 Teilnehmern hinter Städten wie Berlin und Velten [Seite 89] (260), Dresden (230), Leipzig (160), Chemnitz (150), Hamburg (136) oder München (120) zurück. Das Wuppertal hatte seine Bedeutung als Kerngebiet der Bibelforscher verloren. Neue und größere Bibelforscherzentren waren entstanden, vor allem in Mitteldeutschland und Sachsen.
Solange die deutsche Zentrale in Barmen blieb, fanden hier weiterhin Bibelforscher-Kongresse statt. Auf der Hauptversammlung vom 7. bis 10. Juni 1919 in der Aula des Gymnasiums in der Bleicherstraße waren 800 bis 900 Bibelforscher aus ganz Deutschland anwesend und 40 Männer und 26 Frauen wurden getauft. Bis 1921 hatten die deutschen Gemeinden jeweils ihre Hauptversammlungen selbst organisiert, doch nun wurde festgelegt, daß vor der Planung eines solchen Kongresses im Bibelhaus angefragt werden sollte. Die Zentrale in Barmen nahm auch eine Neuorganisierung des „Pilgerdienstes“ vor, und ab 1921 reisten sechs Älteste oder Pilgerbrüder ständig als Vortragsredner, wobei jede Gemeinde in Deutschland berücksichtigt werden sollte.
Ein enormer Auftrieb für das Werk im Zweigbüro und für die Gruppen in Deutschland ging vom ersten Nachkriegskongreß aus, der vom 1. bis 8. September 1919 in Cedar Point (Ohio, USA) mit fast 7.000 Besuchern stattfand. Man gab dort bekannt, das Drucken der religiösen Schriften, wo immer möglich, selbst in die Hand nehmen zu wollen, was die Herstellungskosten niedriger gestalten und ihre nichtkommerzielle Tätigkeit hervorheben sollte. Außerdem wurde eine neue öffentlichkeitswirksame Publikation angekündigt, die in mehreren Sprachen, auch in Deutsch, erscheinen würde – die 32seitige magazinähnliche Zeitschrift „The Golden Age“ oder „Das Goldene Zeitalter“ (G.Z.).
Um die Expansionspläne mit den Zweigbüros zu besprechen, plante der neue Watch-Tower-Präsident Rutherford für November 1920 eine Europareise und ein Besuch in Barmen. Überraschenderweise verweigerten ihm die deutschen Behörden die Einreise. In Amerika hatten während des Krieges klerikale Gegner die Watch-Tower-Literatur unter anderem als „Deutsche Propaganda“ verunglimpft und Rutherford absurde „Umsturzpläne“ vorgeworfen. Das führte in der damaligen Kriegshysterie zu einer Zuchthausstrafe für Rutherford, die allerdings im Mai 1919 vorzeitig beendet wurde. Ein Jahr später war Rutherford vollständig rehabilitiert. Dennoch wird das Einreiseverbot mit seiner Inhaftierung in Amerika oder den lokalen Verboten in Deutschland während des Krieges zu tun gehabt haben. (In einer Erwiderung auf Angriffe hatte Rutherford im März 1918 in der englischen Flugschrift „Kingdom News“ dem Klerus und Papsttum ähnliche Machtgelüste vorgeworfen, wie sie der deutsche Kaiser haben würde.[19] Ob diese Äußerung den Behörden zugetragen wurde, ist unbekannt.) Jedenfalls schien das Deutsche Reich als Druckzentrum für die Wachtturm-Literatur wenig geeignet zu sein, und Rutherford sah die interne organisatorische Neuordnung des Bibelforscherwerkes für Mitteleuropa ohne Deutschland als Mittelpunkt vor.
Rutherford kam am 4. und 5. November 1920 mit 26 deutschen Bibelforschern (Max Cunow, Paul Balzereit, Hermann Herkendell, Heinrich Dwenger und anderen) in Basel (Schweiz) zusammen, um die Neuorganisierung zu besprechen. Das Resultat war die Auflösung des deutschen Zweiges der Watch Tower Society und die Eröffnung eines neuen Büros unter der Bezeichnung „Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft, Zentral-Europäisches Bureau“, dessen Sitz in Zürich war, später aber nach Bern verlegt wurde. Unter die Aufsicht des „Hauptleiters (General-Manager)“ kamen die Schweiz, Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland und Österreich, während ihre „örtlichen Leiter (Manager)“ jeweils vom Präsidenten direkt ernannt wurden. Das Leitungskomitee in Barmen wurde aufgelöst, und da Max Cunow (1849–1933) aus Altersgründen freiwillig zurücktrat, bestimmte man Paul Balzereit zum „örtlichen Leiter“ für Deutschland. Er sollte 1920 die Leitung und Arbeit in Barmen unter Aufsicht des Schweizer Zentralbüros übernehmen und in Deutschland dafür sorgen, daß in absehbarer Zeit – ähnlich wie die Weltzentrale in Brooklyn – auf eigenen Pressen gedruckt werden konnte. Diese Nachricht löste große Freude und Begeisterung bei den deutschen Bibelforschern aus.
[Seite 90]
Am 15. Februar 1921 starteten die Bibelforscher den landesweiten, aufsehenerregenden Vortragsfeldzug „Die Welt ist am Ende – Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben!“. Man organisierte in großem Umfang die Bekanntmachung durch Plakate und Zeitungsannoncen sowie die großangelegte Verbreitung der neuen Broschüre „Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben“. Immer mehr Freiwillige beteiligten sich daran, was eine neue Etappe in der Verkündigungstätigkeit darstellte. Im Juni 1921 druckte eine Firma in Elberfeld bereits die zweite Auflage der „Millionenbroschüre“, die nunmehr weniger Seiten und damit einen niedrigeren Preis hatte. Im Jahresbericht heißt es: „Das öffentliche Zeugnis hat [1921] alles übertroffen, was Deutschland jemals gekannt hat. Große Massen stürmen die Säle.“ Die besonderen Aktivitäten setzten sich 1922 fort, und im April waren 400.000 Exemplare der Broschüre fertiggestellt. Mit der vierten Auflage (Rotationsdruck von Oscar Brandstetter in Leipzig) erreichte der deutsche Titel eine Stückzahl von 1.300.000. Aufmerksamkeit erregte auch die landesweite Verteilung von 4,5 Millionen Kongreßresolutionen oder Traktaten „Aufruf an die Führer der Welt!“. (Ein Jahr darauf, 1923, folgte die millionenfache Verteilung der Proklamation „Warnung an alle Christen“.)
Der „Wachtturm“ erreichte 1922 eine Verbreitung von 192.000 Exemplaren pro Ausgabe. (Wie oben erwähnt, war in Amerika im Weltkrieg und danach eine zweite deutsche Ausgabe gedruckt worden. Das hörte 1921 auf, und von nun an belieferte Barmen auch die deutschen Abonnenten in Amerika.) Die Zahl der vom Barmer Bibelhaus ernannten Ältesten auf „Pilgerreisen“ verdoppelte sich 1922. Die 12 Pilgerbrüder reisten 66.170 Kilometer, führten 700 Besuche von „Gruppen“ (damals auch „Klassen“, heute „Versammlungen“ oder Gemeinden) durch, wobei sie 490 öffentliche Vorträge vor insgesamt über 123.000 Zuhörern hielten.
Die Zeit der Auftragsdruckereien für Wachtturm-Literatur lief allmählich ab. Die ehemalige Bibelhaus-Mitarbeiterin Lore Schünke erinnert sich: „Als Bruder Balzereit kam [1920], wurden natürlich einige Änderungen im Bibelhaus vorgenommen. Es kamen Bruder Unger und Bruder Appel aus der Schweiz und die erste kleine Druckmaschine wurde im Wintergarten aufgestellt. Hinter der Küche war ein sogenanntes Löwenzimmer, ein schmaler Gang, und dort wurden einige Arbeiten der Buchbinderei gemacht und auch der Versand wurde dort eingerichtet.“ Der Beginn der eigenen Drucktätigkeit in Barmen in größerem Umfang wird im allgemeinen auf das Jahr 1922 gelegt. Eine Heidelberger Schnellpresse (für Traktate, Broschüren und den Druck der Einladungszettel der „Millionen“-Vorträge) und zwei kleine Druckmaschinen (Tiegel) für Faltblätter, andere Einladungszettel und Druckerzeugnisse sowie eine Falzmaschine waren inzwischen Tag und Nacht in Betrieb. Mit der Ausrüstung stellte man in diesem Jahr 20.000 Traktate und 100.000 Broschüren selbst her. Damals diente Heinrich Dwenger, der seit 1918 Kolporteur oder Vollzeitprediger in Frankfurt am Main war, erneut im Bibelhaus Barmen.[20]
Friedrich Rekett aus Schlawe, der im August 1922 die Arbeit in der Wachtturm-Druckerei aufnahm und Erfahrungen im Baufach hatte, bekam „den Auftrag, eine Baracke zur Vergrößerung der Druckerei zu bauen. Diese wurde in Schlawe aufgebaut und dann per Bahn nach Barmen transportiert“, schreibt er. Im September 1922 ließ das Barmer Büro den Aufruf ergehen: „Da die Gesellschaft mehr und mehr dazu übergeht, soviel wie möglich selbst zu drucken, benötigen wir schnellstens zwei unverheiratete Brüder, und zwar einen flotten Setzer und einen Buchdrucker, der Schnellpresse und Tiegel bedienen kann (evtl. Schweizerdegen)“.
Hermann Görtz, dessen Eltern eine kleine Druckerei in Lübeck betrieben, meldete sich und beschreibt das Bibelhaus wie folgt: „Der Besitz bestand aus einer einfachen Villa mit zwei Stockwerken und einem Holzschuppen, ca. 8 x 20 x 3 Meter groß. Die Räume im Haus wurden meist als Schlafräume für die Brüder benutzt. Auf den Treppenabsätzen waren kleine Buchbinderei-Maschinen aufgestellt. Der Holzschuppen war Lagerplatz für Bücher und [Seite 91] Broschüren und sonstige Drucksachen. Außerdem waren darin ein Teller-Tiegel, ein alter Heidelberger Propeller, eine alte Schnellpresse ohne Anleger, eine Falzmaschine ohne Anleger und diverse kleinere Geräte. Ich hatte eine Arbeit am Teller-Tiegel, während auf der alten Schnellpresse ein Nachdruck von 100.000 ‚Goldene Zeitalter‘ Nr. 1 [April 1923] lief. Eine große Arbeit, 100.000 Bogen erst auf der einen Seite, Bogen für Bogen mit der Hand anzulegen und dann die Rückseite nochmal.“
Einem Besuch Rutherfords in Deutschland und Barmen im Juni 1922 – er befand sich erneut auf Europareise – stand von seiten der Behörden nichts im Wege. Ein halbes Jahr zuvor hatte die Religionsgemeinschaft Rechtssicherheit erhalten, als der Reichsminister des Innern in Berlin am 7. Dezember 1921 der Wachtturm-Gesellschaft mitteilte, daß der Reichsrat beschlossen habe, die Rechtsfähigkeit der „Wachtturm Bibel und Traktat-Gesellschaft in Allegheny (Vereinigte Staaten von Amerika)“ gemäß Artikel 10 (rechtsfähige Vereine im Ausland) des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch anzuerkennen. Rutherford hielt in der Stadthalle von Elberfeld am 14. Juni einen öffentlichen Vortrag. Am folgenden Tag erwarteten ihn in Barmen etwa 700 Bibelforscher bei einer „Geschwisterversammlung“ der Gemeinden aus dem Rheinland und Westfalen. Seine Aufmerksamkeit an diesem 14. und 15. Juni 1922 galt vor allem der Inspektion des deutschen Zweigbüros. „Jeder auch nur irgendwie benutzbare Platz in irgendeinem Teil des Bibelhauses wird voll ausgenutzt“, berichtete er. Es lag auf der Hand, daß größere Räumlichkeiten benötigt wurden. Das gute Einvernehmen zwischen den Behörden und der Religionsgemeinschaft war nun offenbar. Die Gemeinnützigkeit der Wachtturm-Gesellschaft wurde am 8. November 1922 durch den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung übermittelt und durch den Oberbürgermeister von Barmen anerkannt.[21]
Ein weiterer Meilenstein war der Kongreß in Cedar Point (Ohio) vom 5. bis 13. September 1922 – der erste internationale Bibelforscher-Kongreß überhaupt. Sein Motto „Verkündet den König und sein Königreich!“ war gleichzeitig Programm und jeder Bibelforscher wurde angespornt, in der Bekanntmachungsarbeit persönlich tätig zu werden. (Während der General-Hauptversammlung vom 20. bis 22. Mai 1923 in Stuttgart entfaltete man das Motto auf einem großen Banner.) Für viele kam daher ab 1922 die Zeit, mit dem regelmäßigen Evangelisieren von Haus zu Haus zu beginnen – sofern sie dazu nicht bereits 1921 durch einen „Millionen“-Vortrag angespornt worden waren. Das Bibelhaus ernannte ab 1922 für jede Gemeinde einen „Erntewerksvorsteher“, der mit zwei anderen ernannten Ältesten das „Kolportagewerk“ (Predigtdienst) leitete. Im Juli 1923 wurde schließlich offiziell die Unterscheidung zwischen „Arbeitern“ (aktive Bibelforscher) und „Nichtarbeitern“ (Bibelforscher, die nicht missionierten) aufgehoben und zum wiederholten Male darauf hingewiesen, daß sich alle Bibelforscher als „Verkündiger des Königreiches Gottes“ betrachten und die Ältesten einer Gemeinde die Führung im Predigtdienst übernehmen sollten. Während 1921 in Deutschland „1.345 teils freiwillige, teils Berufskolporteure im Weinberge des Herrn tätig“ waren, wie es hieß, wuchs 1922 die Zahl der im Predigtdienst aktiven Bibelforscher, die in 220 „Klassen“ (Gemeinden) organisiert waren, auf fast 2.000 Personen an. Im Berichtsjahr 1923 gab es bereits über 3.600 missionierende Bibelforscher, die über eine halbe Million Bücher, 350.000 Broschüren und 8,7 Millionen Traktate und Freiliteratur verbreitet hatten. Zu den über 4.600 öffentlichen Bibelforscher-Vorträgen waren 1,2 Millionen Zuhörer gekommen.[22]
Das neue Lehrbuch „Die Harfe Gottes“ (engl. 1921) von J. F. Rutherford löste allmählich die „Schriftstudien“ von C. T. Russell als Bibelstudienhilfsmittel ab, und das „Harfen“-Studium, bei dem der Inhalt des Buches einmal wöchentlich innerhalb einer Gruppe von Bibelforschern besprochen wurde, gehörte bald zum regulären Programm der gottesdienstlichen Zusammenkünfte. Kurz nach der Einführung des deutschen Buches im Jahre 1922 erschien im „Wachtturm“ erstmals eine Liste mit „Fragen für das Beröer Wachtturmstudium“. Bis 1925 waren die meisten Gemeinden [Seite 92] dazu übergegangen, am Sonntag den Hauptartikel im „Wachtturm“ zu besprechen. Dieses wöchentliche Bibelstudium anhand der Zeitschrift ist bis heute eine der wichtigsten gottesdienstlichen Zusammenkünfte der Religionsgemeinschaft.
Die neu gegründete „G.Z.“-Redaktion in Barmen startete am 1. April 1923 mit 35.000 Exemplaren die erste 16seitige reichsdeutsche Ausgabe der Zeitschrift „Das Goldene Zeitalter“ (heute „Erwachet!“), die 1919 auf dem Nachkriegskongreß in Cedar Point (USA) angekündigt worden war. (Seit Oktober 1922 erschien auch in der Schweiz eine halbmonatliche deutsche Ausgabe für Europa.) Mit der Zeit war das Heft großzügig mit Fotos und Illustrationen ausgestattet und ein beliebtes, preiswertes Magazin geworden, das neben den biblischen Rundfunk-Vorträgen Rutherfords viel Wissenswertes und Kurioses aus unterschiedlichen Sachgebieten sowie Meldungen aus der ganzen Welt enthielt.
Das unaufhörliche Wachstum der Glaubensgemeinschaft und ihre von manchen als provozierend empfundenen Schriften, die die Christenheit mit dem Volk Israel vor dem babylonischen Exil und in den Tagen Jesu verglich, erregten Gegenmaßnahmen verschiedenster Art. Ab den 1920er Jahren zeichnete sich neben dem Gegendruck von kirchlicher Seite auch eine politisch orientierte Opposition ab, die während der nationalsozialistischen Diktatur eskalieren sollte. „Der Feind in Deutschland, nicht wissend, womit sonst die Bibelforscher anzugreifen, erhebt nun die Anklage, daß unser Werk jüdische Propaganda ist, welche von reichen Juden Amerikas finanziert wird“, klagte der „Wachtturm“ 1922.[23] Bibelforscher wurden auch wegen „unbefugten Hausierens“ bzw. wegen „Hinterziehung der Hausiersteuer“ vor Gericht gestellt (später wegen Störung der Sonntagsruhe), wobei teilweise empfindliche Strafen verhängt wurden. Erst nachdem das Oberste Landesgericht in Bayern im September 1922 einen Bibelforscher freisprach und feststellte, „er vertrieb die Bücher nur, um die religiösen Anschauungen der Gesellschaft zu verbreiten. Auch die Gesellschaft [in Barmen] verfolgte mit dem Verkauf der Bücher keine Erwerbszwecke“, legte sich diese Kampagne.[24]
Die Räumlichkeiten in Barmen waren für die Verwaltung der Religionsgemeinschaft und für die Redaktion der beiden Zeitschriften zu beschränkt und für den Aufbau einer Setzerei, Druckerei und Buchbinderei völlig unzureichend. Ein Umzug innerhalb des Wuppertals wurde aufgrund der unsicheren Lage durch die französische Besetzung des Ruhrgebiets verworfen. Nach intensiver Suche fand man schließlich ein geeignetes Gebäude. Sein Standort lag verkehrsgünstig, war für die geplante Druckerei sehr geeignet und erlaubte künftige Erweiterungen durch Zukauf von Grundstücken. Am 19. und 20. Juni 1923 verlegte die Internationale Bibelforscher-Vereinigung und ihre Wachtturm-Gesellschaft das Bibelhaus nach Magdeburg, Leipziger Str. 11-12. In Barmen verblieb zunächst nur ein Versandbüro für das von Frankreich besetzte Gebiet.
Mit der finanziellen Unterstützung des Hauptbüros in Brooklyn und von Gläubigen nahm der deutsche Zweig in Magdeburg neue Pressen und moderne Maschinen, einschließlich Schrift- und Setzmaterial, und mit der Zeit eine Rotationsmaschine und eine Buchbindereiausrüstung in Betrieb, so daß alle religiösen Veröffentlichungen selbst gedruckt werden konnten. Der „Wachtturm“ erreichte 1923 eine regelmäßige Auflage von 20.000 Exemplaren (halbmonatlich) und „Das Goldene Zeitalter“ 70.000 Exemplare pro Ausgabe. Während des nächsten Jahrzehnts stieg die Zahl der aktiven Bibelforscher, die 1931 weltweit den neuen Namen „Jehovas Zeugen“ annahmen, auf über 25.000 Personen im Deutschen Reich, wobei Hunderttausende Leser der Schriften hier unberücksichtigt bleiben. Kurz vor dem Verbot im Juni 1933 durch die Nationalsozialisten erreichte das „Goldene Zeitalter“ eine Auflagenstärke von 430.000 Ausgaben. Erst die Nationalsozialisten und ihre Helfershelfer, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen Druck auf Nichtanpassungswillige ausübten, brachten zwischen 1933 und 1945 das Wachstum der Religionsgemeinschaft vorläufig zum Stillstand, indem das Terrorsystem Tausende Männer, Frauen und Kinder einschüchterte, drangsalierte, in Erziehungsheime, Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppte oder ums Leben brachte.[25]
[Seite 93]
Ihren Sitz in Magdeburg behielt die Religionsgemeinschaft bis zum staatlichen Verbot im Juni 1933 und nach dem zweiten Weltkrieg bis zum Verbot durch die DDR-Behörden im August 1950. In der Nachkriegszeit wurde zusätzlich Wiesbaden Standort für ein Wachtturm-Büro und eine neue Druckerei der Zeugen Jehovas in Deutschland (bis 1983, danach in Selters/Taunus). Heute befindet sich der Sitz ihrer Körperschaften in Berlin und Selters/Taunus.[26] In Deutschland gibt es etwa 210.000 Anhänger und Mitverbundene sowie insgesamt rund 1,2 Millionen „Verkündiger“ in den 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Heute leben in der Stadt Wuppertal – 1929 vereinigten sich Elberfeld und Barmen – über 700 Zeugen Jehovas (darunter 37 „Pioniere“ oder Vollzeitprediger, früher Kolporteure genannt), die sich in sechs deutschsprachige und fünf fremdsprachige „Versammlungen“ (Griechisch, Italienisch, Jugoslawisch, Polnisch und Russisch) gliedern. Dazu gehört die Teilgemeinde Wuppertal-Barmen mit über 60 Zeugen Jehovas und zwei Pionieren, die sich wie einst die alten Bibelforscher bemühen, die biblische Lehre vom Millennium Christi unter der Bevölkerung zu verbreiten.
Foto [Seite 93]: Leitende Bibelforscher, 1906. Sitzend: Karl Wellershaus (2. v. l.), Otto Koetitz (1. v.r.). Stehend: Hermann Herkendell (2. v. r.).
[1] Die „Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher“ (1910–1926), deren Name sich später auf „Internationale Bibelforscher-Vereinigung“ (1927–1933, 1945 ff.) änderte, diente der Glaubensgemeinschaft als rechtliche Körperschaft. Als nichtkommerzielle Verlagsgesellschaft fungierte die „Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, deutscher Zweig“ bzw. „Watch Tower Bible and Tract Society, Germany Branch“ mit ihrem Hauptbüro in den USA. Weitere Namen sind „Jehovas Zeugen, Internationale Bibelforscher-Vereinigung e.V., Deutscher Zweig“ (1946-1956), „Wachtturm, Bibel- und Traktat-Gesellschaft, Deutscher Zweig e.V.“ (1956-1999), „Wachtturm, Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas, Deutscher Zweig e.V.“ (1999 ff.) und „Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland“ (1989, 1993-1999, seit 1999 e.V.).
[2] Wachtturm, Juli/Sept. 1902, S. 8. Die Versandanschrift in Elberfeld erscheint dort ohne Straßenangabe. Daher konnte die vollständige Adresse des Büros nicht ermittelt werden. Die Adreßbücher für 1902 und 1903, die Aufschluß darüber geben könnten, sind im Stadtarchiv Wuppertal nicht vorhanden.
[3] Watchtower, 1.7.1903, S. 3214 (Reprint). Aus Platzgründen wird im folgenden meist auf ausführliche Quellenangaben verzichtet. Da die Informationen überwiegend aus zeitgenössischen Ausgaben des „Wachtturms“ stammen (aus Bekanntmachungen, Jahresberichten, dem Impressum usw.), beachte man die entsprechenden zeitlichen Hinweise im Haupttext, wende sich im Bedarfsfall wegen einer Quelle an den Autor oder schlage nach in: Johannes Wrobel: Die frühen Bibelforscher und ersten Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas in Pennsylvanien und Deutschland um das Jahr 1900, in: Waldemar Hirch (Hg.), Die Zeugen Jehovas in der DDR: „Zersetzung“ einer Religionsgemeinschaft. Niedersteinbach 2001, S. 96-126, www.jwhistory.net/text/wrobel-geschichte2001.htm.
[4] Wilhelm Langewiesche: Elberfeld und Barmen. Beschreibung und Geschichte. Barmen 1863 (Faksimile mit Vorwort von Uwe Eckardt, Wuppertal, o.J.), S. 13. O. Schell: Bilder aus der Geschichte Elberfelds. Ausgewählt für Schule und Haus von H. Weitkamp. Elberfeld 1925, S. 163. Gerhart Werner: Die Stillen in der Stadt. Eine Betrachtung über die Sekten, Freikirchen und Glaubensgemeinschaften Wuppertals. Wuppertal 1956, S. 8 f.
[5] Wrobel, Bibelforscher, 2001 (Anm. 3), S.113-115.
[6] Meyers Konversationslexikon, Leipzig 1906, S. 804.
[7] Vgl. die Wortdefinitionen von „Chiliasmus“, „Parusie“ und „Millennium“ im DUDEN 5, Fremdwörterbuch.
[8] Seit 1881 gibt es „Kolporteure“ oder hauptamtliche Vollzeitverkündiger (heute „Pioniere“ genannt), die Wachtturm-Literatur kostenfrei oder gegen geringe Beiträge abgaben. Auf der Hauptversammlung in Barmen 1914 war einer der ersten Kolporteure in Deutschland mit Namen Cornelius anwesend, dessen Aussehen wie folgt beschrieben wird: „Wanderkleidung, einen großen gebogenen Stock, einen Schlapphut, hohe Schäferstiefel und die große Proviant- und Büchertasche umgehängt. Mit seinem weißen Bart sah er sehr ansprechend aus und hatte, vielleicht gerade wegen seiner Schwerhörigkeit, viel Erfolg. Er konnte bisweilen bei Fremden übernachten und mitessen. So war er stets guter Dinge, und das Erzählen seiner Erfahrungen riß nicht ab“ (WTA, LB Lang, Elisabeth). Gab es 1911 nur 10 bis 12 Kolporteure (600 in den USA), so stieg die Zahl in den Jahren 1922 auf 20 und 1924 auf 123, um 1925 den Höchststand von 240 Kolporteuren zu erreichen (danach dienten viele im Ausland und die Zahl sank). Die Nachkriegszeit begann mit sieben „Pionieren“ (1946), im Jahre 1950 gab es bereits über 1.700 und im Jahre 2003 über 11.300 Vollzeitprediger der Zeugen Jehovas in Deutschland. Sämtliche Wachtturm-Literatur wird seit 1991 kostenfrei abgegeben.
[9] Wachtturm, Febr. 1908, S. 18; ab der folgenden Nummer lautet die Schreibweise „Werterstraße“. Vgl. Der Werth, Stadt-Anzeiger, Nr. 49, 7./8.12.1972 und „Wußten Sie schon, was das bedeutet? Werth“, NRZ [Neue Ruhr-Zeitung], 25.6.1958.
[10] Wachtturm-Gesellschaft, Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas (WTA), LB Phoebe Koetitz, Brief v. 24.1.71. Auch im folgenden: LB Hölterhoff, Hans; LB Schünke, Lore; LB Rekett, Friedrich; LB Görtz, Hermann; usw.
[11] Wachtturm, Apr. 1910, S. 77.
[12] Watchtower, 15.12.1914, S. 371 f.; Wachtturm, Juli 1914, S. 111; Aug. 1914, S. 114; Okt. 1914, S. 146; Nov. 1914, S. 162; Dez. 1914, S. 178. WTA, LB Lang, Elisabeth. Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1932, Magdeburg, S. 80; Jahrbuch 1933, S. 103; Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974, Wiesbaden, S. 80; Jahrbuch 1975, S. 57 f. Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes, Selters/Taunus 1993, S. 56 f., 60, 561 f. Johannes Wrobel: Die Nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main, in: Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft (KZG 16), Heft 2/2003, S. 391, www.jwhistory.net/text/wrobel-frankfurt2003.htm.
[13] Ewald Vorsteher aus Barmen ist von historischem Interesse, da er eine Nebenrolle im Verbotserlaß gegen die Zeugen Jehovas vom 24. Juni 1933 spielt, wo er ohne „sektenkundlichen Sachverstand“ von den Nationalsozialisten genannt wird (Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, München 1999, S. 102). Über Vorsteher schreibt eine Zeitzeugin: „Er war ein sehr ehrgeiziger Charakter. Er war ein Ältester und war nicht so in Harmonie mit den Brüdern, die nach Bruder Kötitz die Leitung im Bibelhaus hatten. In den 1920er Jahren machte er sich selbständig und 1923 gab er das erste Mal den ‚Wahrheitsfreund‘ heraus. Er wurde in der Nazizeit verhaftet, nicht um seines Glaubens willen, weil die Gestapo ihn schon länger in Verdacht hatte, und sie hatten einen Bogen in der Maschine eingespannt gefunden, wo er behauptete, Göring sei der Reichsbranstifter. Daraufhin wurde er verhaftet, er kam in ein Konzentrationslager und man vermutet, er ist dort umgekommen oder aber auf dem Schiff, der Cap Arcona. Man hat nichts mehr davon gehört, […] auch der ‚Wahrheitsfreund‘ ist eingegangen“ (WTA, LB Schünke, Lore). Franz Zürcher: Kreuzzug gegen das Christentum - Moderne Christenverfolgung. Eine Dokumentensammlung. Zürich / New York 1938, S. 77.
[14] Jahrbuch 1974 (Anm. 12), S. 82. Paul Balzereit, der 1920 Landesleiter wurde, verteidigte sich unter dem Pseudonym Paul Gerhard in „Kulturfragen. Aus autorisierter Quelle“ (Leipzig, o.J.), S. 10, gegen Angriffe und wies darauf hin, daß er „nie Hafenarbeiter“ und „überhaupt kein Soldat war, auch während des ganzen Krieges immer als ‚dauernd untauglich‘ ausgemustert“ gewesen war. Vgl. Johannes Wrobel: „Balzereit, Paul“, in: Guido Heinrich / Gunter Schandera (Hg.), Magdeburger Biographisches Lexikon 19. und 20. Jahrhundert. Magdeburg 2002, S. 30, www.jwhistory.net/text/wrobel-magdeburg2002.htm.
[15] Schriftstudien, Bd. 6, 1915, S. 551. (1926, S. 591).
[16] Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, Wiesbaden 1960, S. 78. Garbe, Widerstand, 1999 (Anm. 13), S. 46; 72, Fn. 121.
[17] Bundesarchiv Berlin, SAPMO, R 5101, Bl. 33-38.
[18] Garbe, Widerstand, 1999 (Anm. 13), S. 47, Fn. 17.
[19] Kingdom News, Nr. 1 (15. März 1918); Nr. 2 (15. April 1918), Brooklyn, N.Y. Vgl. Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben (Anm. 16), S. 77.
[20] 75 Jahre Wachtturm-Zweigbüro, in: Erwachet!, 8. Juli 1978, S. 13. Wrobel, Verfolgung, 2003 (Anm. 12), S. 385 f.
[21] WTA, Dok 07/12/21; Dok 08/11/22. Jahrbuch 1974 (Anm. 12), S. 90; Zürcher, Kreuzzug, 1938 (Anm. 13), S. 81.
[22] Wachtturm, März 1922, S. 38; Nov. 1922, S. 162; 15.4.1923, S. 118; 15.2.1924, S. 56; Watchtower, 15.12.1923, S. 375 f.
[23] Wachtturm, März 1922, S. 44; Watchtower, 15.12.1921, S. 375.
[24] WTA, Dok 28/09/22; vgl. Jahrbuch 1974 (Anm. 12), S. 103.
[25] Christian Leeck: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Raum Wuppertal 1933–1945, in: Romerike Berge. Zeitschrift für das Bergische Land, 3 (2000), S. 14-19. Michael Okroy: Volksgemeinschaft, Erbkartei und Arisierung. Ein Stadtführer zur NS-Zeit in Wuppertal. Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V. (Hg.), Wuppertal 2002, S. 8, 67, 98 f. Johannes Wrobel: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus – Rezeption, Rezension, Interpretation, in: Religion – Staat – Gesellschaft, Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen (RSG), 1 (2003), S. 115-150, www.jwhistory.net/text/wrobel-rezeption2003.htm.
[26] Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes (Anm. 12), S. 42-89. Jahrbuch 1974 (Anm. 12), S. 66-99. Wrobel, Bibelforscher, 2001 (Anm. 3), S. 96-126. Johannes Wrobel: Über 100 Jahre Jehovas Zeugen in Deutschland. Eine Retrospektive in Siebenmeilen-Stiefeln, in: Arno Huth: Lila Winkel - Geschichten eines bemerkenswerten Widerstandes. Zeugen und Zeuginnen Jehovas waren während der NS-Zeit Gläubige, Kriegsdienstverweigerer, KZ-Häftlinge. Zusammengestellt von Arno Huth, KZ-Gedenkstätte Neckarelz, Begleitheft zur Ausstellung im Dezember 2003, S. 3-7, www.jwhistory.net/text/wrobel-retrospektive2003.htm.