Johannes S. Wrobel: Ansprache zum 55. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge aus dem Zuchthaus Brandenburg, 27. April 2000.

Gedruckte Quelle: 55. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Ravensbrück und aus dem Zuchthaus Brandenburg 14. bis 16. April 2000, 27. April 2000. Eine Dokumentation. Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Oranienburg 2000, S. 57-59.


Johannes Wrobel

Leiter des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas [Anm.: in Selters/Taunus, bis November 2008]

(Selters/Ts.)

An diesem einst berüchtigten Ort des Todes zu stehen, stimmt ernst und nachdenklich. Viele bewegende Abschiedsbriefe zeugen von dem Schmerz und dem Leid, das Menschen hier von Menschen zugefügt worden ist.

Doch vor genau 55 Jahren freute sich – neben vielen anderen Häftlinge – auch eine Anzahl Zeugen Jehovas oder "Bibelforscher" über ihre Befreiung – fassungslos und glücklich zugleich über den Untergang einer barbarischen Welt.

Im Namen von Jehovas Zeugen darf ich für die Gelegenheit herzlich danken, die Opfergruppe der Zeugen Jehovas an diesem Ort vertreten zu dürfen – bei Ihnen, Herr Görlitz, als dem Leiter der Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt und der Dokumentationsstelle Brandenburg, und auch bei Herrn Ohlhauser, der heute hier die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten vertritt.

Unter den 1945 fassungslosen Befreiten war Horst Schmidt (geb. 14.08.1920). Er kann heute nicht anwesend sein, doch entbietet er Ihnen seinen Gruß. Horst Schmidt hatte als junger Mann Abschriften der biblischen, damals verbotenen Zeitschrift "Der Wachtturm" als Kurier von Berlin nach Danzig gebracht, war von der Gestapo gefaßt, dann übel zugerichtet, schließlich als Kriegsdienstverweigerer zum Tode verurteilt worden. Dem Fallbeil entging er um Haaresbreite.

Jehovas Zeugen verweigerten sich aus religiösen Gründen dem nationalsozialistischen System, das bedingungslose Unterwerfung und Eingliederung in die "Volksgemeinschaft" forderte. Viele dieser Frauen und Männer betätigten sich für ihren christlichen Glauben im Untergrund oder verweigerten den Wehrdienst. Der Staat und seine Bürokratie, die Justiz und Polizei kriminalisierten, jagten und sperrten sie hinter Mauern oder ermordeten sie. Diese christlichen Menschen bezahlten für ihre Gewissensentscheidung mit dem Leben. Sie waren keine Kriminellen. Dr. Harald Poelchau, der damals in Tegel, Plötzensee und Brandenburg als Gefängnispfarrer wirkte, erinnert sich:

"Eine große Gruppe unter den militärgerichtlich Verurteilen bildeten die Ernsten Bibelforscher, die meist nicht wegen ‘Kriegsdienstverweigerung’, sondern schon wegen ‘Eidesverweigerung’ verurteilt wurden. Sie gingen für ihre Überzeugung ohne Schwanken in den Tod" (Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers aufgezeichnet von Graf Alexander Stenbock-Fermor. Berlin 1949, S. 37).

Die Zellentür öffnete sich damals auch für Josef Niklasch (geb. 17.09.1918), der gestern mit mir aus Frankfurt am Main angereist ist, und von dem wir über seine Erlebnisse noch hören werden. Er war wegen seines Glaubens im Moorlager, dann von November 1943 bis zur Befreiung, heute vor 55 Jahren, in Brandenburg.

Der befreite Gerhard Schumann (geb. 29.05.1925) – in den Magdeburger Praxisräumen seines Vaters Wilhelm Schumann (geb. 01.07.1900) vervielfältigte man von 1942 bis Februar 1944 heimlich den "Wachtturm" kam 1945 in Brandenburg mit dem Leben und Schrecken davon. Gerhard Schumann kann heute nicht anwesend sein, doch läßt er alle Anwesenden ebenfalls herzlich grüßen.

Die meisten von den zu Unrecht eingesperrten Menschen, die vor 55 Jahren überlebten, Zeitzeugen des Unrechts, sind nicht mehr unter uns. Es liegt an unserer Generation, die Erinnerung zu bewahren – als Mahnung zu mehr Toleranz und Mitmenschlichkeit im Alltag.

Zu den Brandenburger Häftlingen, für die sich am 27. April 1945 das Tor in ein neues Leben öffnete, zählte Franz Fritsche (geb. 26.09.1901) aus Berlin, der eine Zeitlang dort das Untergrundwerk der Zeugen Jehovas geleitet hatte.

Johannes Schindler (geb. 07.04.1901) aus Magdeburg vervielfältigte zusammen mit Wilhelm Schumann im Untergrund Wachtturm-Schriften und brachte Tausende von Exemplaren nach Dresden und Berlin, von wo aus sie teilweise bis in die Konzentrationslager hineingelangten. Beide erhielten Todesurteile, beide überlebten.

Gedenkarbeit bedeutet auch Dokumentation. Noch vor fünf Jahren waren nur die Namen von 35 Zeugen Jehovas allgemein bekannt, die hier in Brandenburg-Görden ihr Leben lassen mußten. Herr Görlitz erwähnt die Zahl in sehr eindrucksvoller Weise in der Filmdokumentation "Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime" (1996).

Nachdem das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Selters/Ts. im Mai 1996 seine Arbeit aufgenommen hatte, sind weitere Namen von Brandenburg-Opfern aus den bislang erfaßten Unterlagen hinzugekommen. Die Aufarbeitung im Geschichtsarchiv gestaltete sich von Anfang an allerdings sehr zähflüssig, da es allein in Deutschland insgesamt über 10.000 Verfolgte des NS-Regimes gab. Ein bereits vorhandener Bestand – vor allem Erinnerungsberichte und persönliche Dokumente (das Grundmaterial für den Bericht im "Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974"), außerdem Fotos – mußte gesichtet und erfaßt werden. Im Laufe der Zeit haben wir hunderte von Anfragen an Überlebende (oder ihre Nachkommen) gerichtet, um Fragen zu stellen und um eventuell Fotos, Dokumente und Berichte zu erhalten. Gleichzeitig wurde von uns mit Recht erwartet, zahlreiche Projekte im In- und Ausland durch Recherchen zu betreuen und zu unterstützen, was wir natürlich gern getan haben, doch was die Aufarbeitungsarbeit insgesamt verlangsamte. Inzwischen gehen einige Freiwillige in Archive und arbeiten unserem Geschichtsarchiv zu. Die Erfassung unseres Gesamtbestandes wird sicherlich noch etliche Zeit in Anspruch nehmen.

Fast zur selben Zeit, 1996, begannen wir mit der Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte in der Sowjetzone (SBZ) und DDR. Dabei findet gleichfalls ein Wettlauf mit der Zeit statt, da viele Zeitzeugen von uns gegangen sind. Johannes Schindler, um ein Beispiel für einen Doppeltverfolgten zu nennen, der, wie erwähnt, dem Fallbeil der Nationalsozialisten entging, erhielt von der DDR wegen der Ausübung seiner Religion 10 Jahre Zuchthaus. Er verbrachte einen beträchtlichen Teil dieser Zeit in den Zuchthäusern Halle und Magdeburg. Er lebte später in Frankfurt am Main und verstarb im Dezember 1986.

Unter uns ist heute Herr Georg Rabach (geb. 11.02.1920) der unter der SED-Diktatur als Zeuge Jehovas zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und hier in Brandenburg bis April 1961 seine Strafe absitzen mußte, doch zwei Jahre und einen Monat früher entlassen wurde.

Zurück zu den nationalsozialistischen Verbrechen, die hier in Brandenburg im Namen des Staates begangen wurden: Nach wie vor stehen bei der Auswertung die vielen Lebens- und Erinnerungsberichte von betroffenen Zeugen Jehovas oder ihren Verwandten – also die "Oral History"-Seite der Verfolgungsgeschichte – im Mittelpunkt, was natürlich Vor-, aber auch Nachteile haben kann. Vorteile, weil diese Berichte, die von verfolgten Zeugen Jehovas (oder ihrer Verwandten) verfaßt sind, nicht selten bewegende Details zu ihrer Leidensgeschichte enthalten, was amtliche Dokumente so nicht vermitteln können.

Und die Nachteile? Uns ist bewußt, daß die Zahlen und Namen in unserer Liste der Hingerichteten noch nicht absolut zuverlässig sind, da sie nicht alle aus amtlichen Quellen stammen, sondern sich in einigen Fällen auf die Überlieferung von Verwandten oder Freunden stützen. So wurde bislang in unserer "Brandenburg-Liste" eine Frau erwähnt, Eva Duchmann (die in einigen Berichten auch als "Tuchmann" und "Buchmann" bezeichnet wird), weil jemand ausgesagt hatte, sie sei in Brandenburg hingerichtet worden. (Das konnte inzwischen korrigiert werden. Wir haben im "Ehrenbuch der Opfer von Berlin-Plötzensee", Willy Perk und Willi Desch, Berlin 1974, S. 96 den Nachweis gefunden, daß Eva Duchmann, geb. 22. April 1893, am 13. Oktober 1944 in Plötzensee hingerichtet wurde.) Das ist ein Beispiel dafür, welche Unsicherheiten mündlichen Überlieferungen anhaften.

Insgesamt waren zwischen 1933 und 1945, soweit bekannt, 130 Zeugen Jehovas über kürzere oder längere Zeit wegen ihres Glaubens in Brandenburg-Görden inhaftiert (100 waren aus Deutschland, 17 kamen aus Österreich, sechs aus Polen, fünf aus Frankreich oder dem Elsaß, zwei aus den Niederlanden), und davon wurden 113 Personen mit dem Fallbeil hingerichtet. (Der Zeuge Jehovas Narciso Riet wurde 1944 von Brandenburg nach Gardelegen gebracht und dort offenbar erschossen.)

Leider existieren so gut wie keine Erinnerungsberichte über die Haft in Brandenburg, wobei Johannes Schindler eine Ausnahme macht. Er schrieb zum Beispiel:

"Hand in Hand aneinandergefesselt wurden wir beide (d.h. mit Wilhelm Schumann) per Eisenbahn von zwei Polizeibeamten eskortiert nach Brandenburg gebracht. (…) In der Aufnahmeabteilung wurden uns alle Zivilsachen abgenommen. Wir bekamen Spezialkleidung, so daß wir als T. U. (Todesurteil) kenntlich waren. Meinem Kameraden wurde der goldene Ehering am Finger mit der Zange abgekniffen, da er zu fest saß. Als er protestierte, sagte der Aufnahmebeamte ruhig und gelassen: ‘Sie wollen doch ihren Ring nicht dem Henker schenken! So bekommt ihn wenigstens ihre Frau wieder zurück.’ Das war auch ein Trost! (…)

Da einige Tage vorher jedem, der fällig war, das Haupt kahlgeschoren wurde, so kam auch am Freitag, den 17. November, der Friseur in Begleitung eines Wachtmeisters in unsere Zelle, und nach zehn Minuten wurde unser schönes langes Haar auf die Schaufel gekehrt. Die Zelle wurde wieder abgeschlossen, und wir beschauten unsere kahlgeschorenen Köpfe. Wir waren entsetzt, weil wir ganz entstellt aussahen. Ernstlich kam uns zu Bewußtsein, daß wir am Montag unser Leben abschließen würden. (…)"

Erlauben Sie mir bitte noch eine Schlußbemerkung.

Dr. Harald Poelchau, der damalige Gefängnispfarrer, schrieb einmal:

"Da waren die Ernsten Bibelforscher, die als absolut zuverlässig und ehrlich galten und darum gerne zu Vertrauensposten im Gefängnis herangezogen wurden" (Poelchau, Harald: Die Ordnung der Bedrängten. Berlin 1963, S. 76).

Alle, die hier als Zeugen Jehovas litten oder starben, wußten, daß sie nicht als Diebe, Mörder oder Verbrecher hier waren, und sie trösteten sich mit dem Bibelwort aus 1. Petrus Kapitel 2, Vers 19, 20:

"Denn wenn jemand wegen des Gewissens vor Gott unter Betrübnissen ausharrt und ungerechterweise leidet, so ist dies etwas Wohlgefälliges. Denn welches Verdienst liegt darin, wenn ihr, sofern ihr sündigt und geschlagen werdet, ausharrt? Harrt ihr aber aus, wenn ihr Gutes tut und leidet, so ist dies bei Gott etwas Wohlgefälliges" (Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift).

In einer Zeit des Werteverfalls sind uns Menschen, die um der Gerechtigkeit willen litten, Mahnung und Beispiel zugleich.

In diesem Sinne danken wir nochmals vor allem Herrn Görlitz, der nicht nur diesen besonderen Anlaß ausgezeichnet arrangiert hat, sondern seit Jahren der Aufarbeitung der Geschichte dieses Ortes und seiner Opfer so viel Kraft und Interesse gewidmet hat. Auch das wird unvergessen bleiben!


Johannes Stephan Wrobel, heute: Freilassing/Salzburg - Berchtesgadener Land (BGL)
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