Wörmann, Heinrich-Wilhelm: Zeugen Jehovas, in: Widerstand in Berlin 1933-1945 - Widerstand in Schöneberg und Tempelhof. Hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2002, S. 267-272.
Zitate
[S. 267]
Zeugen Jehovas
Prozesse gegen Zeugen Jehovas
Wegen ihrer Zugehörigkeit zur kleinen Religionsgemeinschaft der "Ernsten Bibelforscher", seit 1931 auch Zeugen Jehovas genannt, gerieten zwischen 1933 und 1945 zahlreiche Bürger aus Schöneberg und Tempelhof in die Mühlen des nationalsozialistischen Terrors. (Der Bezirk Wedding, Berlin-O und Spandau waren die Zentren der Berliner Organisation.) Die meisten dieser Gläubigen stammten aus einfachen Kreisen, darunter viele Frauen.
Die Internationale Bibelforschervereinigung (IBV) wurde durch staatliche Zwangsmaßnahmen im Juni 1933 aufgelöst und verboten. Trotzdem hielten Mitglieder der Zeugen Jehovas geheime Versammlungen ab und verbreiteten ihre Ideen in Wort und Schrift ("Wachtturm"). Im Laufe der 30er Jahre gab es deshalb in Berlin zahlreiche Strafverfahren vor dem Sondergericht (S. 268), wovon allein 1937 fast einhundert Gläubige betroffen waren. Einige dieser Menschen standen wegen ihrer Glaubenstreue sogar mehrmals vor Gericht. 1944 kam es zu einem weiteren Berliner Massenprozess; diesmal gegen insgesamt fünfundsiebzig Angeklagte (S. 271 f.).
Keine Kirche oder Religionsgemeinschaft hat, gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder, so viele Opfer des Widerstandes zu beklagen wie die Zeugen Jehovas. Das starke Ausmaß ihrer brutalen Unterdrückung ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass diese Gemeinschaft den "ganzen Menschen" verlangt und keine Kompromisse zulässt (S. 26).
Die Zeugen Jehovas, die weltliche Eide ablehnen, verweigerten sich deshalb auch gegenüber der NS-Diktatur. Es wurde weder der sogenannte Führergruß geleistet noch die geringste politische Verpflichtung dem NS-Staat gegenüber anerkannt (S. 269 ff.). Besonders empfindlich reagierte das totalitäre Regime, das in diesen Gläubigen eine "die Volksgemeinschaft zersetzende Sekte" sah, auf die konsequente Verweigerung des Wehrdienstes.
Für ihren Glauben nahmen Zeugen Jehovas wiederholt schwere Leiden, viele sogar die Todesstrafe, auf sich. Von insgesamt 25.000 Anhängern der Religionsgemeinschaft in Deutschland wurden etwa 10.000 für kürzere oder längere Zeit inhaftiert. Rund 1400 von ihnen ließen ihr Leben, darunter über 300 Menschen, die wegen "Wehrkraftzersetzung" und anderen Gründen das Todesurteil erhielten.
Besonders die leitenden Funktionsträger wurden nach Verbüßung einer kürzeren Haftstrafe ins Konzentrationslager eingewiesen. Mithäftlinge, so aus den Reihen der Arbeiterbewegung, berichten von der großen Standhaftigkeit der Ernsten Bibelforscher, allerdings auch von einer gewissen sektiererischen Abkapselung.
Zwischen 1933 und 1945 richteten sich mehrere Prozesse auch gegen engagierte Verfechter der Idee der Zeugen Jehovas aus Schöneberg und Tempelhof. [ ]
[S. 269]
[ ] Die Strafbemessung begründet das Sondergericht im Prozess Wuntsch mit dem üblichen Vorwurf einer vermeintlichen Ablehnung jeglicher staatlicher Autorität.
Urteil Sondergericht 1 beim Landgericht Berlin vom 29. Mai 1937:
"Für die Strafzumessung waren folgenden Gesichtspunkte maßgebend: Die Gefährlichkeit der verbotenen Organisation und die Notwendigkeit, abschreckend zu wirken, musste beim Strafmaß in den Vordergrund treten. Es handelt sich bei der IBV um eine über die ganze Welt verbreitete Sekte, die eine schwere Gefahr für den Staat bedeutet, da sie jede staatliche Autorität, vor allem den Wehrdienst verneint, so dass ihre Lehre schließlich zur Anarchie hinführen würde. Dieser Gefahr muss mit scharfen Maßnahmen begegnet wurden " [ ]