Wolfram Wette: Kriegsdienstverweigerer: Die Zeugen Jehovas, in: ders.: Die Wehrmacht – Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt am Main 2002.


Zitate

"[Seite 160] Die einzigen Männer mit einem Gruppenzusammenhang, die dem Staat Hitlers trotz aller Pressionen den Kriegsdienst verweigerten, waren die Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Der NS-Staat ging gegen die religiöse Minderheit mit einer heute kaum noch nachvollziehbaren Härte vor. Man muss wissen, dass die Religionsgemeinschaft der 'Ernsten Bibelforscher' (Zeugen Jehovas) im Jahre 1933 lediglich etwa 20 000 bis 30 000 Mitglieder zählte. Als Organisation wurde die Glaubensgemeinschaft [Seite 161] schon im Juni 1933 verboten. Etwa 10 000 ihrer Mitglieder kamen zeitweise in Gefängnisse und Konzentrationslager. Weshalb, so fragt man sich, war der NS-Staat nicht imstande, der kleinen Gruppe der Zeugen Jehovas einfach keine Aufmerksamkeit zu schenken und sie durch Nichtbeachtung zu tolerieren? Tatsache ist, dass der Staat Hitlers sie wie einflussreiche politische Feinde behandelte. Dabei definieren sich die Zeugen Jehovas selbst gar nicht als politische Menschen. Sie verstehen sich primär als gläubige Christen, die Distanz zum politischen Umfeld zu halten versuchten. Allerdings enthielt ihre Vorstellung von einem realen Reich Gottes auf Erden, das am Ende auch alle irdischen Herrschaftsstrukturen aufheben werde, hinreichenden Konfliktstoff. Denn sie kollidierten mit den Gehorsamsforderungen des totalitären Staates.

Zudem legten die Zeugen Jehovas eindeutig widerständiges Verhalten an den Tag. Es ist der Sache und der Wirkung nach als politisch einzuschätzen, auch wenn es religiös gedacht war. In ihren Schriften bezeichneten die Zeugen Jehovas das Dritte Reich als 'Teufelsherrschaft' und Hitler als 'Antichrist'. Sie weigerten sich, die nationalsozialistische Grußformel 'Heil Hitler!' auszusprechen, und benutzten weiterhin die gewohnten bürgerlichen Grußformen 'Guten Morgen!' und 'Guten Tag!', wozu unter den gegebenen Verhältnissen großer Mut gehörte. Noch viel schwerer wog, dass sie sich standhaft weigerten, den Eid auf Hitler als den Oberbefehlshaber der Wehrmacht zu leisten. Aus der Sicht des nationalsozialistischen Staates stellten diese Verhaltensweisen ein ganzes Bündel von Loyalitätsverweigerungen dar, das geradezu als eine Kampfansage gegen den NS-Staat gewertet wurde. Tatsächlich stuften SS- und Gestapofunktionäre die Zeugen Jehovas schon in den 30er Jahren als Staatsfeinde ein.

Mit der Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1935 verschärfte sich die Situation. Denn nun wurde jeder Mann einer bestimmten Altersgruppe ohne Ausnahme zwangsverpflichtet. Seit dem Kriegsbeginn 1939 schließlich sahen sich die Zeugen Jehovas vor die denkbar größte Herausforderung gestellt: Entweder sie beugten sich den so genannten Kriegsnotwendigkeiten, also den Forderungen des nationalsozialistischen Militärstaats, [Seite 162] und schworen ihren Überzeugungen ab. Oder aber sie blieben ihrem Glauben treu und verweigerten den Kriegsdienst. Das aber bedeutete, der sicheren Todesstrafe entgegenzusehen. Bis zum heutigen Tage ist es noch immer viel zu wenig bekannt, dass viele Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft dieses Martyrium auch tatsächlich auf sich nahmen. [...] Wie der langjährige Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, Hanns Lilje, im Jahre 1947 befand, können die Zeugen Jehovas 'für sich in Anspruch nehmen, die einzigen Kriegsdienstverweigerer großen Stils zu sein, die es im Dritten Reich gegeben hat, und zwar offen und um des Gewissens willen'. In der Tat war die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas die einzige Gruppe, welche während der NS-Zeit die Kriegsdienstverweigerung propagierte und praktizierte. Der Gruppenverbund hatte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Denn jene Männer, die als Zeugen Jehovas den Kriegsdienst verweigerten, konnten immerhin sicher sein, dass ihre Religionsgemeinschaft voll hinter ihnen stand und sie in jeder Phase ihres schweren Weges moralisch unterstützte.

Verweigerer als den Reihen der beiden Großkirchen dagegen konnten mit einer solchen Rückendeckung nicht rechnen. So erklärt es sich, dass es in der NS-Zeit generell nur ganz wenige evangelische und katholische Kriegsdienstverweigerer gegeben hat."


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