Ingrid Schupetta: "Die Verfolgung festhalten und der Öffentlichkeit mitteilen." Das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus, in: Merländer-Brief, Veröffentlichung des Villa Merländer e.V. - Förderverein der NS-Dokumentationsstelle Krefeld, Nr. 11, Juli 2004, S. 4.


Merländer-Brief, Nr. 11, Juli 2004, S. 4
Veröffentlichung des Villa Merländer e.V.
Förderverein der NS-Dokumentationsstelle Krefeld

Das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus

"Die Verfolgung festhalten und der Öffentlichkeit mitteilen"

Im Mai hatte die Verfasserin dieses Artikels die Gelegenheit, das "Geschichtsarchiv" der Zeugen Jehovas zu besuchen. Dieses Archiv befindet sich auf dem Gelände der WACHTTURM Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas in Selters /Taunus. Kern der Anlage ist eine riesige, moderne Druckerei, in der Bibeln, Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Traktate in vielen Sprachen für den Bedarf der Zeugen Jehovas hergestellt und für den Versand vorbereitet werden. Um diesen Betrieb herum gruppieren sich Wirtschafts- und Wohngebäude für etwa 1000 Personen, einschließlich eines Versammlungssaales und einer Großkantine. Die gesamte Anlage macht einen ungewöhnlich sauberen und gepflegten Eindruck. Obwohl die Religionsgemeinschaft in Deutschland nach wie vor nicht den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangt hat [Anm.: was inzwischen der Fall ist], genießt sie als gemeinnütziger Verein Anerkennung. Die Lebensgemeinschaft in Selters ist - unvermutet - als religiöser Orden staatlich anerkannt.

Das Geschichtsarchiv dokumentiert die Verfolgung der Bibelforscher in Nazi-Deutschland und in der DDR. Es konzentriert sich auf einen nicht-klimatisierten Raum, in dem Material unterschiedlicher Herkunft in Ordnern und Hängemappen gelagert wird. Kostbare Originale, wie Briefe aus Gefängnissen und (Konzentrations-)lagern, Ausfertigungen der Urteile für die Angeklagten, Schutzhaftbefehle und ergleichen, werden in Hüllen aus säurefreiem Papier aufbewahrt. Nach dem Verständnis von Archivaren, handelt es sich demnach eher um eine Sammlung als um ein Archiv.

Die Dokumentation besteht aus Originalzeitungsausschnitten aus der Zeit zwischen 1933 und etwa 1940, als Berichte über die Verfolgung in Deutschland in die Schweiz geschmuggelt wurden. Dann gibt es die Ergebnisse organisationsinterner Befragungen über die Verfolgung, die um 1946 und 1970 durchgeführt wurde. Dabei wurden Erinnerungsberichte, Fotos und Dokumente überliefert, wie sie bis heute in Nachlässen auftauchen und in Selters Teil der Foto- und Dokumentensammlung werden können. Für den internen Gebrauch gibt es außerdem Kopien aus staatlichen und kommunalen Archiven und eine Zusammenstellung der diversen Äußerungen des NS-Staates in Bezug auf die Zeugen Jehovas.

Die Aufgabe der Einrichtung ist die Verfolgung der Zeugen Jehovas in möglichst allen Einzelfällen festzuhalten und diese Erkenntnisse der Öffentlichkeit mitzuteilen. Entsprechend auskunftsfreudig ist das Geschichtsarchiv. Erschlossen wird die Sammlung durch ein Computerprogramm. Es ermöglicht unter anderem nach Namen und Orten zu suchen. Die Stichprobe lieferte nicht nur den Nachweis, dass eine bestimmte Frau als Zeugin verfolgt worden war, sondern auch gleich den Zeitungsartikel zu ihrem Gerichtsverfahren aus dem Jahre 1937.

Ungewöhnlich breit sind die Nutzungsmöglichkeiten des Materials. Wer seine Daten und Dokumente nach Selters gibt, stimmt einer Veröffentlichung im Kontext der geschichtlichen Aufarbeitung in der Regel zu. Für Ausstellungszwecke können sogar Originale ausgeliehen werden. Eine erst im vergangenen Jahr wieder aufgefundene Jacke eines Mannes aus Herne, der im KZ Wewelsburg festgehalten wurde, soll Teil der neuen Ausstellung der Gedenkstätte Wewelsburg werden.

- shu


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