Lila Winkel - die "vergessenen Opfer" des NS-Regimes. Die Geschichte eines bemerkenswerten Widerstandes. Begleitheft zur Ausstellung. Hg. von der Wachtturm-Gesellschaft, Selters / Taunus 1999, 2003.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort - 3 Zitate - 5 Verbote - 6 Untergrundwerk - 7 Kinder - 8 Haft und KZ - 10 Hinrichtungen - 20 Todesmärsche - 25 Überlebende - 27 Chronik - 30
Zitate
1933 Die Reichstagsbrandverordnung zur "Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" setzt viele Grundrechte außer Kraft (28. Februar). Verbote der Zeugen Jehovas auf Grund von Falschanklagen in den meisten Ländern des Reiches; eine Petition an den Reichskanzler und die Behörden bleibt erfolglos (April und Juni). Beschlagnahmung von Gemeindeeigentum, Verbrennen von Wachtturm-Literatur und erste Einweisungen von Zeugen Jehovas in Konzentrationslager (Juli).
1934 Jehovas Zeugen vervielfältigen Wachtturm-Literatur im Untergrund, da die Polizei ihre Post überwachen läßt, um die Einfuhr aus dem Ausland zu unterbinden. Bis März sind etwa 4 000 Hausdurchsuchungen, 1 000 Verhaftungen (davon etwa 400 Einlieferungen in ein KZ) und 200 Fälle von Mißhandlungen registriert worden. Viele Zeugen Jehovas, die Beamte sind, werden entlassen (ab Juni). Am 7. Oktober geht eine Flut von Protesttelegrammen an Hitler, der hysterisch schreit: "Diese Brut wird aus Deutschland ausgerottet werden!"
1935 Allgemeines Reichsverbot [sic!] der Zeugen Jehovas mit dem Ziel, sie aus dem Staatsdienst zu entfernen (1. April). Die Sondergerichte verurteilen zahllose Zeugen Jehovas zu empfindlichen Gefängnis- und Geldstrafen, weil sie christliche Zusammenkünfte durchführen und ihre Schriften verteilen. Ohne Rücksicht auf die festgelegte Rechtsprechung befiehlt die Gestapo eigenmächtig Richtlinien für die Schutzhaft von Zeugen Jehovas und ihre Einweisung in ein KZ (17. Juni und 9. September).
1936 Der Reichsinnenminister untersagt den Zeugen, "Bibeln oder andere an sich einwandfreie religiöse Schriften" zu verkaufen, was zu vermehrten Verhaftungen führt (30. Januar). Die Behörden dürfen Zeugen Jehovas die Arbeitslosenunterstützung und Rente vorenthalten (ab 2. Februar). Wegen Nichtbeteiligung an der "Reichstagswahl" müssen viele Zeugen Jehovas Mißhandlungen oder Schmähungen erdulden (29. März). Gestapo und Kriminalpolizei bilden Sonderkommandos, und bei den Sondergerichten werden Sonderdezernate eingerichtet, um gegen Zeugen Jehovas zu ermitteln und sie abzuurteilen (Juni). Trotz der Massenverhaftungen (28. August) gelingt es Jehovas Zeugen im gesamten Reichsgebiet, die Luzerner Protestresolution zu verteilen (12. Dezember).
1937 Polizei und Justiz werden angewiesen, "mit den schärfsten Mitteln" gegen Jehovas Zeugen vorzugehen; das Strafmaß wird erhöht, und nach Verbüßung einer Gefängnishaft erfolgt oft die Einweisung in ein KZ oder weitere Haft. Rund 4 000 Zeugen sind verhaftet worden, und sie werden oft gruppenweise in "Bibelforscherprozessen", über die die Presse offen berichtet, abgeurteilt. Die Vormundschaftsgerichte strengen erfolgreich Verfahren an, um Kinder von den Eltern zu isolieren. Jehovas Zeugen führen eine zweite reichsweite Flugblattaktion durch, um die Bevölkerung auf den Gestapo-Terror aufmerksam zu machen (20. Juni).
1938 Ungefähr 5 bis 10 Prozent der KZ-Häftlinge in der Vorkriegszeit sind Zeugen Jehovas. Sie werden in speziellen Baracken hinter Stacheldraht "isoliert" gehalten (in einigen Lagern bereits früher) und erhalten für neun Monate absolutes Schreibverbot (März). In der Schweiz dokumentieren die Zeugen die Verfolgung in dem Buch Kreuzzug gegen das Christentum und erwähnen, daß "jetzt schon 6 000 . . . in Gefängnissen und Konzentrationslagern schmachten" (Mai). In einer Rede in New York, die von 60 Radiostationen ausgestrahlt wird, verurteilt J. F. Rutherford, der Präsident der Watch Tower Society, Hitler und die Judenverfolgung mit scharfen Worten (8. Oktober).
1939 August Dickmann wird durch Polizei-Justiz als erster Kriegsdienstverweigerer öffentlich im KZ Sachsenhausen erschossen, was in den folgenden Tagen über Rundfunk und in der Presse bekanntgegeben wird (15. September). Seit Kriegsbeginn haben die Schikanen gegen die inhaftierten Zeugen Jehovas zugenommen. Von den über 400 Zeugen im KZ Sachsenhausen sterben im strengen Winter etwa 100 auf Grund von Mißhandlungen, Hunger und Schwäche.
1940 Die Staatspolizei ordnet an, am 12. Juni schlagartig im ganzen Reichsgebiet alle Zeugen Jehovas zu verhaften und ihre Wohnungen zu durchsuchen. Die Schweizer Behörden beschlagnahmen im Juli das Buch Kreuzzug gegen das Christentum (bis September 1944). Die deutsche Justiz hat schon 112 Kriegsdienstverweigerer, die Zeugen Jehovas sind, mit dem Tod bestraft (August). (Bis zum Ende des Krieges werden es rund 270 sein, darunter 50 Österreicher.)
1941 Ludwig Cyranek, der 1939 und 1940 heimlich Wachtturm-Literatur in Deutschland und Österreich weiterleitete, wird zum Tod verurteilt (März) und in Dresden hingerichtet (3. Juli); Julius Engelhard und andere übernehmen seine Arbeit (1939 bis April 1943).
1942 Das "Mitteilungsblatt der deutschen Verbreitungsstelle des Wachtturms" und andere Vervielfältigungen kursieren unter gefangenen Zeugen Jehovas und im Untergrund. Zeugen Jehovas in Untersuchungshaft dürfen weiter in brutaler Weise gequält werden. Hitler bekräftigt, daß man die Bibelforscher "ausrotten" müsse (August). Die extreme Situation der in den KZ inhaftierten Zeugen Jehovas bessert sich jedoch, da für die SS inzwischen die wirtschaftliche Ausbeutung der Häftlinge im Vordergrund steht.
1943 Aus dem Untergrund werden Jehovas Zeugen an vielen Orten in Deutschland und Österreich mit Wachtturm-Literatur versorgt, und aus den KZ gelangen heimlich Briefe nach draußen. Die SS muß erkennen, daß Jehovas Zeugen trotz "Isolierung" in den KZ standhaft bleiben und verteilt sie jetzt auf die Häftlingsbaracken (September). In Ravensbrück werden "Asoziale" auf den Bibelforscher-Block gelegt.
1944 Himmler ordnet die überraschende Durchsuchung verschiedener KZ an, wobei man größere Mengen Wachtturm-Literatur findet (April). Auch außerhalb der Lager sprengt die Gestapo Untergrundnetze, wobei 254 Zeugen verhaftet werden. Julius Engelhard und Auguste Hetkamp werden zum Tod verurteilt (Juni) und hingerichtet (August). Dennoch wird an verschiedenen Orten weiterhin im Untergrund gearbeitet und sogar im KZ Wewelsburg Wachtturm-Literatur vervielfältigt. Das Reichskriegsgericht überträgt die Verfahren gegen Kriegsdienstverweigerer wegen "Überlastung" zahlreiche Fälle betreffen Zeugen Jehovas untergeordneten Gerichten (August). Todesurteile sind inzwischen reine Formsache.
1945 Befreiung des KZ Auschwitz (27. Januar). Bei den Zwangsevakuierungen der KZ und auf den "Todesmärschen" nach Süden und Westen helfen sich die Häftlinge mit dem "lila Winkel" (Zeugen Jehovas) gegenseitig, um nicht von der SS erschossen zu werden. Befreiung der KZ Buchenwald (11. April), Bergen-Belsen (15. April), Sachsenhausen (22. April), Dachau (29. April) und Ravensbrück (30. April) sowie der Zuchthäuser Brandenburg (27. April), Waldheim (6. Mai) und anderer Haftanstalten. Alle 230 Zeugen Jehovas überleben den "Todesmarsch" nach Schwerin (3. Mai). Die überlebenden Zeugen aus dem KZ Stutthof landen auf der dänischen Insel Mön (5. Mai). Kapitulation das Deutsche Reich existiert nicht mehr (8. Mai)! Mit 7 000 Personen beginnen Jehovas Zeugen die deutsche Nachkriegsgeschichte.