Galina A. Krylova: Religionsfreiheit in Rußland auf dem Prüfsstein. Vorwort, in: Gabriele Yonan, Jehovas Zeugen - Opfer unter zwei deutschen Diktaturen 1933-1945, 1949-1989. Berlin - Bühl 1999, S. 5f.


ZITAT

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VORWORT von Galina A. Krylova

Religionsfreiheit in Rußland auf dem Prüfsstein

[...] In gewisser Weise gleicht sich das Los der Zeugen Jehovas unter allen totalitären Regimen. Sie wurden im nationalsozialistischen Deutschland wegen ihres Glauens verfolgt, wo sie den Hitlergruß und den Wehrdienst verweigerten. Sie hatten den Mut, offen Neutralität im militärischen Bereich und im Krieg zu vertreten und die nationalsozialistische Ideologie abzulehnen, da diese ihrer religiösen Überzeugung widersprach. Die Zeugen Jehovas sagten sich von ihrem Glauben nicht los, dafür gingen sie durch alle Kreise der Hölle, obwohl sie nur eine Verleugnungserklärung zu unterschreiben brauchten, um aus den Konzentrationslagern entlassen zu werden.

In der ehemaligen Sowjetunion wurden die Zeugen Jehovas nicht weniger grausamen Repressalien unterworfen. Sie wurden auf Lebenszeit nach Sibirien verbannt, verbüßten lange Haftstrafen, starben durch die Entbehrungen in Gefängnissen und Lagern. Aber die Gläubigen predigten auch dort, was zu weiteren Verfolgungswellen führte. Erst Anfang der 90er Jahre wurden Zeugen Jehovas als Opfer politischer Unterdrückung rehabilitiert, was jedoch nicht das Ende ihrer religiösen Diskriminierung bedeutete.

Heute sitzt die Gemeinde der Zeugen Jehovas in Moskau erneut wegen ihres Glaubens auf der Anklagebank. Am 17. November 1998 begann im Moskauer Golowinsky-Volksgerichtshof die Gerichtsverhandlung. Die absurde Anklage in dem Zivilverfahren lautet: Gesetzwidrigkeit der Glaubenslehren. Den Traditionen der offiziellen Meinungsgleichheit getreu, erhebt die Staatsanwaltschaft des demokratischen Rußlands Anklagen, die denen der ehemaligen sowjetischen Machthaber gleichen. Sogar die Wortwahl der Anklage hat sich seit den Jahren der kommunistischen Unterdrückung nicht geändert. Nur der Gegenstand, der durch den Staat angeblich geschützt werden muß, ist neu definiert: 'kommunistische Werte' wurde [Seite 6] durch 'traditionelle Werte' ersetzt. Aktiv am Prozeß beteiligt sind Vertreter der orthodoxen Kirche, die offensichtlich hoffen, auf der durch das Schwert der staatlichen Inquisition gereinigten Erde, die sie als ihr angestammtes Glaubens-Territorium betrachten, die Samen des wahren Glaubens aufgehen zu lassen.

Interessanterweise wurden historische Parallelen direkt in der Verhandlung erörtert, als die Richterin fragte, wo und wann denn Jehovas Zeugen verboten gewesen wären. Auf die Antwort des Anwalts, dies sei nur unter totalitären Regimen, wie in Nazi Deutschland und in der ehemaligen Sowjetunion, der Fall gewesen, forderte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, man solle die Verteidigung für diese Äußerungen strafrechtlich verfolgen.

Die Rückwendung zur kommunistischen Vergangenheit Rußlands erfolgte unmerklich im Verlauf einiger Jahre unter dem Schutzmantel des Kampfes für die Demokratie. Die einstigen Gegner der Gewissensfreiheit sind jetzt erwünschte Verbündete der Regierung, die sich bemüht, nationale Werte, die im postkommunistischen Rußland verlorengingen, wieder aufzubauen. Die Festigung der orthodoxen Machtpostition in der durch den atheistischen Marxismus ausgehöhlten Gesellschaft ist ohne die Rückkehr zur Unterdrückung Andersgläubiger nicht möglich. Und wie zu sowjetischen Zeiten, wird Unterdrückung im religiösen Bereich gemeinsam von Staatsanwaltschaft, Gericht und Öffentlichkeit, vertreten durch Antisekten-Vertreter, ausgeübt. [...]

Die Erfahrung der Zeugen Jehovas sowohl in Deutschland, als auch in Rußland zeigt, daß ihr konsequentes Festhalten an biblischen Werten, ihre politische und militärische Neutralität sowie die Ablehnung totalitärer Ideologien, von Seiten autoritärer Regime mit massiver Unterdrückung beantwortet wird.

Das Buch von Gabriele Yonan berichtet von Menschen, die für ihren Glauben litten und starben, auch von der Machtlosigkeit der Diktatur angesichts dieser Standhaftigkeit. Die Vergangenheit darf nicht in Vergessenheit geraten, sonst kann sie, wie das Beispiel Rußlands zeigt, wiederbelebt werden. Auch das ist eine Lehre, die aus diesem Buch gezogen werden kann.

Moskau, 23. März 1999

Dr. Galina A. Krylova ist Anwältin und Rechtsbeistand im Verfahren gegen die Moskauer Gemeinde der Zeugen Jehovas vor dem Golowinsky-Volksgerichtshof


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