Kaufhold, Barbara: Jehovas Zeugen in Mülheim, in: dies., Glauben unter dem Nationalsozialismus in Mülheim an der Ruhr. Essen 2006, S. 306-322.


ZITATE

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Eine angebliche Weltverschwörung

Für Jehovas Zeugen konnte es nur ein Weltreich Jehovas mit "König Christus" geben. Im nationalsozialistischen Staat gab es nur einen selbsternannten Führer, Adolf Hitler. Die Ablehnung dieser Ausschließlichkeit war ein wesentlicher Grund für die Verfolgung von Jehovas Zeugen.[164]

Zwar hatte die Bibelforschervereinigung anfangs versucht, die gegnerischen Angriffe durch Betonung ihres rein religiösen Charakters und Loyalitätsbekundungen gegenüber Staat und Regierung aufzufangen. Doch schon der offizielle Name der Gemeinschaft "Internationale Bibelforscher-Vereinigung" (kurz IBV)[165] galt den Nationalsozialisten als "Beweis" für ihre politische Tätigkeit im Sinne der verhaßten "Internationale"; und ihre Unterordnung unter die Watch Tower-Zentrale in New York und ihren Präsidenten Rutherford "beweise", daß sie einer ausländischen Macht dienten.[166] Jehovas Zeugen gehörten überwiegend einfachen Gesellschaftsschichten an. Anderen religiösen Gemeinschaften gegenüber wahrten sie Distanz. Von der jüdischen Glaubensgemeinschaft grenzten sie sich ab. Zwar vertraten sie die Auffassung von der Gleichheit der Rassen, was ihnen bereits in den 1920er Jahren den Haß antisemitischer Gruppen eintrug. In den Wachtturm-Schriften 1938 und 1940 klagten sie die Judenverfolgung als "unentschuldbar", als "Rassenwahn" und "einen der schwärzesten Schandflecke der Weltgeschichte" offen an. Die Nationalsozialisten empörten sich, daß Jehovas Zeugen die Rassegesetzgebung "besonders gehässig bekämpften".

Gleichwohl verwahrte sich die IBV 1933 entschieden gegen die nationalsozialistische Unterstellung, kommerziell und "jüdisch" zu sein, im Bund mit den Juden eine angebliche Weltverschwörung zu planen.[167]

Aus der Sicht des amerikanischen IBV-Präsidenten Rutherford waren es "die Handelsjuden des Britisch-Amerikanischen Weltreiches, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker." Man habe keinen Streit mit den Juden, aber müsse "als Zeugen für Jehova und in Befolgung seiner in der Schrift niedergelegten Gebote […] auf die Wahrheit hierüber aufmerksam machen, damit das Volk über Gott und sein Vorhaben aufgeklärt werden möchte".[168]

Der "lila Winkel" - Jehovas Zeugen im Widerstand

25.000 bis 30.000 IBV-Angehörige, respektive sich zu Jehovas Zeugen Bekennende, gab es in Deutschland.[169] Etwa die Hälfte der Mitglieder setzte den "Verkündigungsdienst" im Untergrund fort bzw. wurde aktenkundig.[170]

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Foto: Erklärung, der Glaubensgemeinschaft Jehovas Zeugen abzuschwören, Konzentrationslager Niederhagen, Wewelsburg. Die Unterzeichnung der Erklärung wurde mit der Entlassung aus dem Konzentrationslager belohnt. Geschichtsarchiv Jehovas Zeugen, Selters.

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In der Verfolgungsquote von annährend 50 Prozent spiegeln sich auch die anderen Bibelforscher, die sich 1933/34 von der IBV zurückgezogen und ihren Glauben nur noch im Privaten ausübten oder sich von ihm abkehrten.[171]

Die Bibelforscher, die sich gegen "den Führer" im Deutschen Reich entschieden, traten gemeinsam in von der Zentrale organisierten Gruppen an. Andere folgten einzig ihrem Gewissen und leisteten als Einzelne Widerstand und Verweigerung. In der Regel agierten die Zeugen Jehovas nicht in ihrer Heimatstadt, sondern in Nachbarstädten, wo sie nicht bekannt waren.

Trotz der Härte der Verfolgung wollten sich Jehovas Zeugen nicht beugen. Bekennermut und Sendungsbewußtsein vereinigten sich mit der Auffassung, Märtyrer des christlichen Glaubens zu sein. Ihr starker Gruppenzusammenhalt gab ihnen wesentliche Kraft, dem Regime zu widerstehen. Sie hielten Bibelabende ab, vervielfältigten und verbreiteten die Schriften der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung, sammelten unter dem Stichwort "Gute Hoffnung" Geld für verfolgte Glaubensbrüder und bekannten vor Nicht-Bibelforschern ihren Glauben.

Im Konzentrationslager wurden die Bibelforscher mit einem eigenen Zeichen, dem "lila Winkel", gekennzeichnet. Jehovas Zeugen hatten die Möglichkeit, durch Unterzeichnung eines Erklärung ihrer Religionsgemeinschaft abzuschwören und unverzüglich aus der Haft entlassen zu werden. Die wenigsten machten davon Gebrauch.[172]

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164      Vgl. Garbe, S. 155.

165      Die Gruppierung hieß ab 1927 Internationale Bibelforscher-Vereinigung mit Sitz in Barmen, ab 1923 in Magdeburg; vor 1927 Vereinigung Ernster Bibelforscher mit Sitz in Elberfeld von 1902 bis 1908.

166      Vgl. Garbe, S. 87.

167      Dies u.a. am 25.6.1933 in der Wilmersdorfer "Erklärung". Vgl. Johannes Wrobel: Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main. In: Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft. Göttingen, 16. Jg. 2003, Heft 2/2003, S. 404.

168      Rutherford äußerte aus amerikanischer Sicht: "Es ist von unseren Feinden fälschlich behauptet worden, daß wir in unserer Tätigkeit von den Juden finanziell unterstützt werden. Dies ist absolut unwahr, denn bis zur gegenwärtigen Stunde ist auch nicht das geringste an Beiträgen oder finanzieller Unterstützung für unser Werk von Juden geleistet worden. Wir sind treue Nachfolger Jesu Christi und glauben an ihn als den Heiland der Welt. Die Juden dagegen verwerfen Jesus Christus völlig und leugnen absolut, daß er der Welt Heiland ist, der von Gott zum Nutzen des Menschen gesandt wurde. Schon allein diese Tatsache sollte genügender Beweis dafür sein, daß wir von den Juden nicht unterstützt werden, und daß die Anschuldigungen gegen uns in böser Absicht vorgebracht worden und falsch sind und nur von Satan, unserem großen Feinde, herrühren können. Das Anglo-Amerikanische Weltreich ist die größte und bedrückendste Herrschaft auf Erden. Hiermit ist das Britische Weltreich, wovon die Vereinigten Staaten Amerikas einen Teil bilden, gemeint. Es sind die Handelsjuden des Britisch-Amerikanischen Weltreiches, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker. […] Dies ist in Amerika so offenbar, daß es in bezug auf die Stadt New York ein Sprichwort gibt, das heißt: 'Den Juden gehört die Stadt, die irischen Katholiken beherrschen sie, und die Amerikaner müssen zahlen.' Wir haben mit den erwähnten Gruppen keinen Streit, sondern als Zeugen für Jehova und in Befolgung seiner in der Schrift niedergelegten Gebote müssen wir auf die Wahrheit hierüber aufmerksam machen, damit das Volk über Gott und sein Vorhaben aufgeklärt werden möchte." Zitiert nach Wrobel: Die nationalsozialistische Verfolgung, S. 404f.

169      Vgl. Garbe, S. 497.

170      25.000 Angehörige in Deutschland nennt Benz, von denen etwa die Hälfte der Mitglieder den "Verkündigungsdienst" im Untergrund fortgesetzt haben. Vgl. Wolfgang Benz: Informationen zur politischen Bildung, Heft 243: Deutscher Widerstand 1933-1945, S. 21. Siehe auch: Wrobel: Die nationalsozialistische Verfolgung, S. 370ff.

171      Vgl. Garbe, S. 497.

172      Hermine Schmidt (geboren 1921 in Danzig) half ihrem späteren Ehemann Horst Schmidt bei der Erstellung von Flugblättern und nahm dafür die KZ-Haft auf sich, obwohl die Erklärung der Unterzeichnung ihr die sofortige Freiheit gebracht hätte. Siehe dazu: Hermine Schmidt: Die gerettete Freude. Eines jungen Menschen Zeit 1925 bis 1945. Potsdam-Babelsberg 2001. Horst und Hermine Schmidt leben seit 1952 in Mülheim an der Ruhr.


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