Gerald Hacke: Zeugen Jehovas in der DDR - Verfolgung und Verhalten einer religiösen Minderheit. Hg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden, Dresden 2000.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung - 7
2. Die Zeugen Jehovas und ihr Verhältnis zum Staat - 12
3. Jahre des friedlichen Aufbaus (1945-1947/48) - 19
4. Der Weg in die Konfrontation (1947/48-1950) - 26
5. Versuch der Eliminierung (1950-1965 - 40
5.1 Das Verbot und die unmittelbaren Folgen - 40
5.2 Die juristische Offensive - 43
5.3 Organisationsstruktur und Glaubenspraxis der Zeugen Jehovas in den fünfziger Jahren - 50
5.4 Strategien des MfS/SfS in den fünfziger Jahren - 55
5.5 Ein letzter Versuch zur Liquidierung - 60
6. Kontrolle und Repression (1965-1985) - 65
6.1 Ein neues Repressionskonzept - 65
6.2 Versuche zur Etablierung einer "inneren Opposition" - 69
6.2.1 Splittergruppen ehemaliger Zeugen Jehovas - 69
6.2.2 "Christliche Verantwortung" -- Opposition im Auftrag des MfS - 71
6.2.3 Die Herausgabe und Verbreitung "zersetzender Schriften" - 76
6.3 Sonstige "zersetzende Maßnahmen" gegen die Zeugen Jehovas - 77
6.4 Glaubenspraxis und -struktur der Zeugen Jehovas seit den sechziger Jahren - 82
6.5 Zeugen Jehovas und die Wehrdienstfrage - 86
7. In der Grauzone zwischen Duldung und Illegalität (1985-1989) - 89
8. Eine Bilanz - 98
9. Anhang - 110
9.1 Organisationsstrukturen - 110
9.2 Abkürzungen - 114
9.3 Quellenverzeichnis - 116
9.4 Literatur - 117
[Seite 71]
6.2.2 "Christliche Verantwortung" - Oppositiongruppe im Auftrag des MfS
"Die Studiengruppe 'Christliche Verantwortung' (CV) und ihre gleichnamige Zeitschrift waren sehr viel wirksamere Werkzeuge in der Zersetzungsstrategie des MfS. Nach außen trat die CV als 'republikweite Studiengruppe ehemaliger Zeugen Jehovas auf, die ihre gleichnamige Monatszeitschrift besonders für derzeitige Zeugen Jehovas herausgibt.' Auch sie reklamierte für sich, in der Tradition der Oppositionsbewegung der zwanziger Jahre zu stehen, und stellte sich die Aufgabe, 'die Anhänger der ZJ [Zeugen Jehovas] über den Missbrauch durch die ZJ-Funktionäre aufzuklären'. Einen Keil zwischen Leitung und Anhänger der Glaubensgemeinschaft zu treiben, war aber gerade das erklärte Ziel des MfS. Um die Entwicklung und Bedeutung der CV innerhalb der Zersetzungsstrategie des MfS zu beleuchten, muss man in die fünfziger Jahre zurückgehen. [...]"
"[Seite 74] [...] Bis Ende der sechziger Jahre stieg die Zahl der CV-Mitarbeiter allerdings nicht nennenswert an. 1967 waren es 30 Personen. Das MfS sah sich genötigt, die eigenen Dienststellen mit der Suche nach geeigneten IM für die Mitarbeit zu beauftragen.
Angesichts dieser Tatsachen erscheinen die Erfolge bescheiden und im allgemeinen keine nennenswerten Auswirkungen gehabt zu haben. Die Zeitschrift ["Christliche Verantwortung", CV] erreichte die anvisierte Zielgruppe nicht im erhofften Maße. Die Möglichkeit, in der DDR eine religiöse Zeitschrift herauszugeben, noch dazu gegen eine verbotene Religionsgemeinschaft, zeigte offensichtlich die Verbindung zu staatlichen Stellen. Außerdem griff die Zeitschrift die Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas zu direkt an, als dass sie von möglicherweise unzufriedenen Gläubigen akzeptiert werden konnte.
Die Antwort muss jedoch differenzierter ausfallen. Angaben über Gründe von Austritten oder Ausschlüssen bei den Zeugen Jehovas liegen nicht vor. Die Auswirkungen der Zeitschrift auf diesem Gebiet können also nicht überprüft werden. Immerhin gelang es dem MfS mit den Rundbriefen, vor allem aber mit der seit Oktober 1965 erscheinenden Zeitschrift CV ein in tausenden Exemplaren gedrucktes Periodikum zu schaffen. Den Angaben des MfS über die zersetzende Wirkung von fingierten Skandalbriefen aus Versammlungen der Zeugen Jehovas, die in der CV behandelt wurden, ist m. E. Glauben zu schenken. Die weitaus größere Bedeutung kam der CV allerdings durch ihre Außenwirkung zu. Bei der relativen Abgeschlossenheit der Zeugen Jehovas war die CV das Informationsaorgan für an dieser Religionsgemeinschaft interessierte Historiker, "Sektenkundler" und Pfarrer. Zu den
[Seite 75] Erfolgen des MfS bei ihrer Strategie mit der CV gehörte, dass ihre Lügen in diesen Kreisen geglaubt wurden. Auf Informationstagungen bzw. Seminaren des Konfessionskundlichen Arbeits- und Forschungswerkes des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR waren Müller und andere Mitarbeiter gern gesehene Gäste. Im Verteiler der monatlich erscheinenden CV waren neben kleineren Religionsgemeinschaften die evangelische Zeitschrift "Standpunkt" und die katholische "begegnung" -- beide von "fortschrittlichen" bzw. "realistischen" Christen herausgegeben --, Pfarrer und andere sich mit den Zeugen Jehovas befassende Personen der Kirchen. Auch die Verbindung ins westliche Ausland wurde von den Mitarbeitern der CV und ihren Hintermännern gesucht. Die Studiengruppe CV war die Ansprechpartnerin für organisierte ehemalige Zeugen Jehovas in der Bundesrepublik, den USA und Kanada. Zu Materialaustausch und Korrespondenzen kam es auch mit der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen. Den bedeutendsten Einfluss erlangte die CV jedoch bei der in Westberlin herausgegebenen Zeitschrift "Kirche im Sozialismus". Ihr wurden dort immer wieder Möglichkeiten zur Selbstdarstellung eingeräumt. Höhepunkt dieser Propagierung der CV als ehrbarer Partner im Kampf gegen die Zeugen Jehovas war der Artikel "Verbotene Missionare -- Die Zeugen Jehovas in der DDR" von Christian Pietsch.
Das Informationsmonopol der CV und die unkritische Übernahme ihrer Informationen durch kirchliche Kreise haben einer realistischen Darstellung der Zeugen Jehovas geschadet. Die Strategie des MfS erwies sich als erfolgreich. [...]"
- Anmerkungen und Quellen im
gedruckten Exemplar -
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