Marion Detjen: Die Zeugen Jehovas, in: dies.: "Zum Staatsfeind ernannt ..." - Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-Regime in München.
Hg. von der Landeshauptstadt München, München 1998, S. 237-252.


Zitate
(entnommen http://www.widerstand.musin.de/w4-11.html)

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6. Die Zeugen Jehovas

Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas gehörte zu den am schlimmsten verfolgten und sich am konsequentesten auflehnenden Gruppen im "Dritten Reich". Da ihnen ihr starker Glaube verbot, den totalitären Ansprüchen des Regimes zu gehorchen, ließen sich sehr viele Zeugen Jehovas auch durch KZ-Haft und Todesurteil nicht zur Anpassung bewegen. Gleichzeitig standen sie in der deutschen Gesellschaft völlig allein, ohne eine Möglichkeit, mit anderen oppositionellen Gruppen zusammenzuarbeiten: Sowohl mit den beiden großen Kirchen als auch mit der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung waren sie verfeindet. Obwohl die Zeugen Jehovas politisches Handeln für sich ablehnten und nur ihrer religiösen Betätigung nachgehen wollten, scheuten sie sich nicht, ihre eigene Verfolgung und das Unrechtsregime des Nationalsozialismus mit eminent politischen Aussagen anzuprangern. Im Gegensatz zur katholischen und protestantischen Kirche nannten sie in ihren Zeitschriften Hitler und Mussolini als "Diktatoren" und "Gewaltmenschen" durchaus beim Namen.

Seit Anfang des Jahrhunderts gab es in Deutschland Zweigniederlassungen der Gemeinschaft der "Internationalen Bibelforschervereinigung" (IBV). Die aus Amerika kommende Organisation hatte vor allem in den 20er Jahren in Deutschland zahlreiche neue Mitglieder gewonnen und war auf circa 25 000 Gläubige angewachsen. 1931 benannten sich die "Bibelforscher" oder "Ernsten Bibelforscher" in "Zeugen Jehovas" um. Die Zeugen Jehovas erkannten für sich Regeln und Gesetze an, die sie aus sehr wörtlich genommenen Bibelstellen ableiteten. Diese Gesetze schrieben ihnen nicht nur Missionstätigkeit und organisierte Bibelbesprechungen vor, sondern auch Kriegsdienstverweigerung und Eidesverweigerung. So lautete die fast stereotype Verteidigung der verfolgten Zeugen Jehovas in den Gestapovernehmungen:

"Ich wende den deutschen Gruß (Hitlergruß) nicht an, weil in der Bibel steht : 'Es ist in keinem anderen Heil als in Jesus Christus'. Zum Wählen bin ich seit dem Jahre 1923 nicht mehr gegangen. Ich war Kriegsteilnehmer (...), heute ist meine [Seite 238 (Foto); Seite 239] Überzeugung die, daß ich niemals mehr Deutschland mit der Waffe in der Hand verteidigen würde, da in der Bibel steht: 'Du sollst nicht töten'. Diese meine Einstellung gründet sich darauf, daß ich die Gesetze des Staates nur insoweit anerkennen kann, als diese mit den Geboten Gottes nicht in Widerspruch stehen."

Wegen dieser grundsätzlichen Verweigerungshaltung waren die Zeugen Jehovas schon in der Weimarer Republik Schikanen und Diskriminierungen ausgesetzt gewesen. Ihre Betonung der Gehorsamspflicht gegenüber Gott und nicht gegenüber dem Staat, sowie ihre Agitation gegen die großen Kirchen, vor allem die angeblich vom Satan eingesetzte "römisch-katholische Hierarchie", brachten sie in die völlige gesellschaftliche Isolation. Da sie an einen baldigen Untergang der von "teuflischen" Mächten regierten "alten Welt" in der Endzeitschlacht "Harmagedon" glaubten, fühlten sie sich durch die Krisensymptome und die sich verschlechternde Weltlage Anfang der 30er Jahre bestätigt und waren - ähnlich wie die Kommunisten - bereit, bis zu diesem ersehnten Zeitpunkt große persönliche Opfer auf sich zu nehmen.

Unmittelbar nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung" wurden die Zeugen Jehovas als erste Religionsgemeinschaft nach und nach in allen deutschen Ländern verboten. In Bayern erfolgte das Verbot durch Bekanntmachung des Bayerischen Innenministeriums am 13. April 1933. Ihre "Staatsfeindlichkeit" stand nicht nur für die Gestapo außer Frage: "Die Staatsfeindlichkeit der Sekte der IBV (Internationalen Bibelforschervereinigung) besteht darin, daß die Lehre der Bibel von den Funktionären der IBV bewußt eine pazifistisch-edelkommunistische Auslegung erhält, die sich gegen jede staatliche Ordnung und hauptsächlich gegen Heeres- und Kriegsdienst richtet." Eine Zeitlang hielt die reichsweit etwa 25 000 Mitglieder zählende Gemeinschaft still, da man glaubte, daß das Verbot nur vorübergehend sei. Um allerdings trotzdem nicht auf das Schriftgut der IBV - dem als "geistiger Speise" in der religiösen Praxis ein hoher Stellenwert zukam - verzichten zu müssen, schmuggelte man die Literatur aus der deutschsprachigen Schweiz und der Tschechoslowakei ins Reich. Vor allem die Ausgaben des "Wachtturms", anhand dessen die Bibel ausgelegt wurde, kamen mit Tarnnamen und Tarnadressen meist auf dem Postweg an die Gläubigen. Um die häufigen Beschlagnahmungen zu umgehen, begannen manche Zeugen Jehovas, auf eigene Faust "Wachtturm"-Artikel zu vervielfältigen. Viele waren bereits Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt oder verloren ihre Arbeit, weil sie sich weigerten, einen Eid auf Hitler zu leisten oder den Hitlergruß anzuwenden. Doch erst Anfang September 1934 beschloß die IBV auf einem Kongreß in Basel, daß "Gottes Wort" nun auch unter den Bedingungen der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland in organisierter Form weiter befolgt werden müsse. Dieser Beschluß wurde in einem Brief an die NS-Regierung formuliert. Die Delegierten aus Deutschland kehrten mit dem Auftrag heim, in allen Städten "Zellen" zu bilden, die sich von nun an wieder wöchentlich treffen sollten. Am 7. Oktober 1934 [Seite 240] wurde in einer reichsweiten, spektakulären Aktion der "Beschluß von Basel" kundgetan: Alle Zellen trafen sich am gleichen Tag und schickten eine Abschrift des Briefes an die Regierung, in dem sie sich zum Widerstand bekannten:

"Wir Zeugen Jehovas müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen. Aus diesem Grunde werden wir uns nach seinem Worte trotz des bestehenden Verbotes weiterhin versammeln. Wir können die Gesetze der Regierung nur soweit achten, soweit sie nicht im Gegensatz zur Bibel stehen."

Anfang 1935 wurde mit dem Aufbau einer hierarchischen illegalen Organisation begonnen, die sich von dem Leiter des deutschen Werkes über Bezirksleiter, Gruppenleiter und Untergruppenleiter bis hinunter zu den Zellen staffelte. Diese straffe Organisation und die märtyrerhafte Opferbereitschaft ihrer Mitglieder ermöglichten es lange, nicht nur immer wieder große Verhaftungswellen zu überstehen, sondern auch noch weitere ähnlich spektakuläre Aktionen wie die Briefaktion vom 7. Oktober 1934 durchzuführen. Dennoch gelang es durch Terror und Massenverhaftungen, die illegale Organisation bis 1937/38 weitgehend zu zerschlagen.

Seit Kriegsbeginn kamen erneut viele männliche Zeugen Jehovas in die KZs, die den Kriegsdienst verweigerten. Manche zogen es vor, sich zum Tode verurteilen zu lassen, als selber eine Waffe in die Hand zu nehmen. Besonders die Frauen - die auch schon in den 30er Jahren eine wesentlich größere Rolle gespielt hatten als in anderen oppositionellen Gruppen - bauten wieder ein organisatorisches Netz auf, das den Austausch von Schriftenmaterial ermöglichte.

Die Untergrundorganisation der Zeugen Jehovas
in München

In München gab es zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen "Machtergreifung" einige hundert Zeugen Jehovas. Die meisten von ihnen hatten sich Anfang der 20er Jahre taufen lassen. Der Anteil an älteren und alten Leuten überwog deutlich. Viele litten an körperlichen Gebrechen und Krankheiten und lebten in kargen Verhältnissen. Ein Großteil der Männer hatte im Ersten Weltkrieg mitgekämpft und war wohl auch durch das Kriegserlebnis dazu bekehrt worden, nie wieder den Dienst an der Waffe zu tun. Die Frauen hatten in der Organisation der IBV zwar keine führenden Positionen inne, spielten aber an der Basis eine wichtige Rolle. Obwohl der Anteil an Ehepaaren hoch war, traten viele Frauen auch ohne ihre Ehemänner der Glaubensgemeinschaft bei.

Bis zum Verbot traf man sich in München - abgesehen von den privat organisierten Bibelstunden - im "Kolosseum", einem Versammlungsort in der Kolosseumstraße. In der Illegalität waren solche großen Versammlungen nicht mehr möglich. Man beschränkte sich darauf, in "Zellen" von circa sechs Personen [Seite 241] reihum in den Wohnzimmern zusammenzukommen, um angeleitet von "dienenden Brüdern" mit Hilfe des "Wachtturms" die Bibel auszulegen. Die "dienenden Brüder" hielten auch den Kontakt zwischen den Zellen aufrecht und erstatteten monatlich Zellenberichte. Diese Berichte wurden, ebenso wie die in den Zellen gesammelten Spenden für das Spendenwerk "Gute Hoffnung" oder die Armen der IBV, über die Untergruppenleiter und Gruppenleiter dem Bezirksleiter zugestellt. Auf dem umgekehrten Weg erfolgten die Versorgung mit illegaler Literatur und die Anweisungen für größere Aktionen.

Die Literaturversorgung funktionierte in München sehr gut. Noch kurz vor dem Verbot im April 1933 hatte man in einem Lagerhaus in der Implerstraße ein geheimes Bücherlager eingerichtet, in dem bis zu seiner Entdeckung durch die Gestapo etwa 160 Zentner Literatur aufbewahrt wurden. Ein kleineres Lager gab es in der Wilhelmstraße. Die meisten Schriften kamen aus dem Ausland - neben dem "Wachturm" zum Beispiel "Die Zeitenwende", "Der Ausblick", "Der neue Sproß", "Erkenntnis", "Freudengesänge" oder "Das Verstehen der Prophetie". Gerade der "Wachturm" wurde jedoch auch in München vervielfältigt, um von den Unwägbarkeiten der Belieferung aus dem Ausland unabhängig zu sein. Bis zuletzt gelang es der Gestapo nicht, alle Kanäle, über die die Literatur weitertransportiert und verbreitet wurde, aufzudecken. Einige Male machte die Gestapo bei Hausdurchsuchungen zwar größere Zufallsfunde oder konnte bestimmte Transportwege ins oberbayerische Umland aufdecken, doch das gesamte Netz blieb ihr letztlich verborgen.

Allerdings lagen die organisatorischen Strukturen den Behörden bald offen zutage: Bis zu seiner Verhaftung im April 1936 fungierte als Bezirksleiter für ganz Bayern Otto Lehmann, der wohl gleichzeitig auch als Gruppenleiter Münchens arbeitete. Seine Aufgabe war, neben der Beschaffung und Herstellung der "Speise", also der Literatur, den Kontakt zum Reichsleiter Erich Frost aufrechtzuerhalten. Das Stadtgebiet Münchens wurde in mehrere Untergruppen unterteilt, so zum Beispiel Schwabing, München rechts der Isar, Sendling, Schwanthaler Höhe, Neuhausen/Nymphenburg usw., für die sogenannte Untergruppenleiter verantwortlich waren. Die Untergruppen wiederum gliederten sich in die Zellen, in denen die eigentliche Bibelarbeit stattfand. So umfaßte die sehr große Untergruppe rechts der Isar insgesamt 23 Zellen mit jeweils vier bis acht Personen, die von sechs "dienenden Brüdern" seelsorgerisch betreut wurden.

Im Frühjahr und Sommer 1936 fanden in München - wie auch in anderen Städten - die ersten großen Verhaftungswellen statt. Auch Lehmann wurde gefaßt, vier Monate später sein Nachfolger Johann Kölbl . Dutzende von Personen erhielten in verschiedenen Verfahren vor dem Sondergericht Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren. Die meisten blieben auch vor der Gestapo standhaft: "Ich werde auch fernerhin meiner Überzeugung treu bleiben und werde diese Überzeugung jedem, der sich dafür interessiert, kund tun." Offenbar führten diese Verhaftungen innerhalb der Münchner Organisation wie auch in anderen Städten [Seite 242] dennoch zu einer Krise. Der Untergruppenleiter rechts der Isar, der Justizangestellte Johann Karl Zimmermann, legte seine Funktion nieder und wandte sich von der IBV ab, weil er mit den manchmal scharf politisch formulierten, antinationalsozialistischen Aussagen in den Schriften der Zeugen Jehovas nicht mehr einverstanden war und weitere illegale Arbeit für aussichtslos hielt. Die IBV übte keinen Druck auf ihn aus, sondern ließ ihn ohne weiteres ziehen. Auch andere Münchner Zeugen Jehovas kritisierten die antinationalsozialistische Richtung der IBV und wünschten eine Rückkehr zur reinen religiösen Betätigung.

Als Folge der Bibelforscherverbote auch in Danzig und Österreich veranstaltete die IBV Anfang September 1936 in Luzern in der Schweiz wieder einen internationalen Kongreß, der durch die Massenverhaftungen in Deutschland eine besondere Brisanz bekam. Auch einigen Münchnern gelang es unter großen Schwierigkeiten, an dem Kongreß teilzunehmen. Die "Resolution", die zum Abschluß des Kongresses verabschiedet wurde, legte für die Zukunft fest, wie man die Verfolgungen der Zeugen Jehovas in Deutschland zu interpretieren habe und in welcher Richtung man weiter handeln würde. Irrtümlicherweise wurde dabei die NS-Regierung als von der katholischen Kirche gelenkt gedeutet - wobei diese durchaus die Verfolgungskampagne gegen die Zeugen Jehovas gutgeheißen und mitvorangetrieben hatte:

[Seite 243] "Wir rufen alle gutgesinnten Menschen auf, davon Kenntnis zu nehmen, daß Jehovas Zeugen in Deutschland, Österreich und anderswo grausam verfolgt, mit Gefängnis bestraft und auf teuflische Weise mißhandelt und manche von ihnen getötet werden. Alle diese verruchten Taten werden gegen sie von einer grausamen, heimtückischen und bösen Macht verübt, wozu diese durch jene religiöse Organisation, nämlich die römisch-katholische Hierarchie, welche viele Jahre lang das Volk getäuscht und den heiligen Namen Gottes gelästert hat, veranlaßt wird. Die Hitlerregierung, die von den Jesuiten der römisch-katholischen Hierarchie unterstützt und beeinflußt wird, hat wahren Christen jede Art grausamer Bestrafung auferlegt und fährt fort, dies zu tun, gleichwie auch Christus Jesus und seine Apostel um der Gerechtigkeit willen verfolgt wurden. Jehova Gott hat seinen Knechten befohlen, diese Bösen (Hesekiel 33:8,9) zu warnen, damit die volle Verantwortung für ihr verkehrtes Handeln auf ihnen selbst ruhe. (...)

Als Nachfolger Christi beteiligen wir uns nicht an den politischen Angelegenheiten dieser Welt; auch besitzen wir kein Interesse daran. Unser einziger Zweck und Auftrag besteht darin, den Namen und das Königreich Gottes unter Christus bekannt zu machen, damit die Menschen darüber Klarheit erhalten und in völliger Kenntnis der Sachlage entscheiden können, wem sie dienen wollen. Wir senden herzliche Grüße an unsere verfolgten Geschwister in Deutschland und bitten sie, guten Mutes zu sein (...)."

Diese "Resolution" sollte an Hitler und den Papst geschickt und an einem bestimmten Tag im ganzen Reichsgebiet als Flugblätter auf den Straßen verteilt werden. Weiterhin wurde beschlossen, die Organisation der Zeugen Jehovas in Deutschland neu aufzubauen, die Funktionsträger jedoch nicht mehr "Leiter", sondern ihrer religiösen Zielsetzung entsprechend "Diener" zu nennen.

Viele der Münchner Delegierten auf dem Kongreß wurden sofort nach ihrer Rückkehr verhaftet, so auch Johann Burger, der in der Untergruppe Schwanthaler Höhe einer Zelle angehörte, die sich in der Landsberger Straße traf. Nach Verbüßung seiner Gefängnisstrafe wurde er nicht etwa freigelassen, sondern auf Jahre im KZ Dachau interniert, "mit Rücksicht auf sein hartnäckiges Festhalten an den staatsfeindlichen Bestrebungen der IBV". Sein Bruder Karl Burger war schon im Juli 1936 nach Dachau gekommen, weil er nach seiner Einziehung zum Arbeitsdienst den Hitlergruß und die Eidesleistung verweigert hatte.

Die IBV setzte nun im Herbst 1936 als neuen Bezirksdiener für Bayern den aus Sachsen stammenden Karl Siebeneichler ein, der ohne festen Wohnsitz mit äußerstem Einsatz die Münchner Organisation völlig umstrukturierte. Er bestimmte Martin Pötzinger als Gruppendiener für München und die Untergruppendiener für die einzelnen Stadtteile. Außerdem führte er ein, daß die Zellen nicht mehr von "dienenden Brüdern" vesorgt würden, sondern sich von nun an selber "bedienten". Seine schwierigste Aufgabe war, die Verteilung der "Resolutionen", die reichsweit für den 12. Dezember 1936 festgesetzt war, in München zu leiten und [Seite 244] zu koordinieren. Unter den Bedingungen der Illegalität, mit dem Zwang zur Konspiration und den fortgesetzten Verhaftungen der Untergruppendiener, bedeutete diese Aktion ein ungeheures Wagnis. In den Wochen davor kamen 10 000 bis 15 000 der Flugblätter, als Reisegepäck aus der Schweiz getarnt, auf dem Münchner Hauptbahnhof an. Zusätzlich ließ Siebeneichler 4 000 "Resolutionen" mit einem Handabziehapparat herstellen. Die Flugblätter wurden in Pakete von je 50 Stück verschnürt und diese mit genauen Anweisungen versehen, in welchen Straßen und Häuserblöcken sie zu verteilen seien. Die Untergruppendiener leiteten die Pakete dann an die ihnen unterstellten Zellen weiter, deren Mitglieder schließlich die Verteilung übernahmen. So gelang es, daß ganz München am 12. Dezember mit den "Resolutionen" überschwemmt wurde. Beim Verteilen erwischt wurde allein Martin Pötzinger. Da dieser - obwohl er wahrscheinlich gefoltert wurde - keine anderen Namen preisgab, führte die alarmierte Gestapo bei allen ihr bekannten "Bibelforschern" - etwa 160 Familien - Hausdurchsuchungen durch. Schließlich nahm sie sich wahllos fünf Personen vor, die sich auf andere Weise bereits verdächtig gemacht hatten, und vernahm sie unter "verschärften" Verhörmethoden. Als eine Frau nach mehrstündiger Vernehmung gestand, konnte die Gestapo die Untergruppe rechts der Isar, circa 60 Personen, aufrollen. Auch einige andere Gruppen konnten verhaftet werden.

Dennoch gelang es Siebeneichler, die Organisation in München noch einige Wochen weiterzuführen und die verhafteten Untergruppendiener erneut zu ersetzen. Für den 12. Februar 1937 hatte die IBV eine Wiederholung der reichsweiten Verteilaktion der "Resolution" vorgesehen. Diese scheiterte jedoch in München aufgrund eines Mißverständnisses: Manche Zellen hatten ein falsches Datum mitgeteilt bekommen und verteilten ihre Pakete bereits einen Tag vorher. Die Gestapo war gewarnt. Im Februar und März 1937 wurden Karl Siebeneichler und fast alle noch übrig gebliebenen illegal tätigen Zeugen Jehovas in München verhaftet.

Es bestand nun nur noch eine kleine Gruppe von etwa 20 Personen - vor allem Frauen, von denen einige schon 1936 inhaftiert gewesen waren. Eine Frau [Seite 245] übernahm auch die Funktion des Bezirksdieners: Elfriede Löhr , die sich den Decknamen "Nelly" zugelegt hatte, schaffte es, für die Gruppe mehrere Exemplare des "Wachturms" zu besorgen und gesammeltes Geld ins Ausland weiterzuleiten. Die Gruppe richtete sich sogar ein neues Bücherlager in der Baaderstraße ein. Da "Nelly" versteckt leben mußte und oft außerhalb Münchens konspirativ arbeitete, übergab sie die Münchner Leitung an Anna Gerig: "Herren wurden nicht mehr genommen, weil keine mehr da sind, die sich für die Angelegenheit eigneten." Anna Gerig organisierte für München noch die reichsweit geplante Verteilaktion eines "Offenen Briefes" am 20. Juni 1937, einem verzweifelten Aufschrei gegen die Verfolgungen und Mißhandlungen:

"Seit vielen Jahren haben wir, Jehovas Zeugen, früher Bibelforscher genannt, in Deutschland unseren Volksgenossen die Bibel und ihre trostreichen Wahrheiten gelehrt und dabei in selbstloser Weise zur Linderung materieller und geistiger Not Millionen verausgabt. Als Dank dafür sind Tausende von Zeugen Jehovas in Deutschland aufs grausamste verfolgt, mißhandelt und in Gefängnisse und Konzentrationslager eingesperrt worden. Trotz größtem seelischen Druck und trotz sadistischer körperlicher Mißhandlung, auch an deutschen Frauen, Müttern und Kindern im zarten Alter, hat man in vier Jahren nicht vermocht, die Zeugen Jehovas auszurotten; denn sie lassen sich nicht einschüchtern, sondern fahren fort, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, wie es seinerzeit die Apostel Christi auch taten, als man ihnen verbot, das Evangelium zu verkündigen. (...)"

Der "Offene Brief" wurde von Anna Gerig und drei weiteren Frauen in 300 bis 400 Exemplaren kuvertiert und teils an willkürliche Adressen, teils an frühere, noch nicht verhaftete Anhänger verschickt und auf den Straßen verteilt. Wenig später nahm die Gestapo die Gruppe fest. Damit war die Münchner Organisation der Zeugen Jehovas endgültig zerstört.

Obwohl sich die Funktionsträger der Zeugen Jehovas durchaus der Illegalität und politischen Brisanz ihrer Arbeit bewußt waren, war diese doch vor allem nur darauf ausgerichtet, den Mitgliedern der Religionsgemeinschaft kontinuierlich die Religionsausübung zu ermöglichen. Den einfachen Zellenmitgliedern war es [Seite 246-247 (Fotos); Seite 248] meist unbegreiflich, daß die in Wohnzimmern und Küchen veranstalteten Bibelstunden vom Staat verboten und verfolgt wurden. Schließlich tat man nicht mehr, als gemeinsam zu beten, mithilfe des "Wachturms" die Bibel auszulegen und Geld für die Armen einzusammeln. Da die Zellen sich häufig aus Familien und langjährigen Freunden zusammensetzten, trugen die Bibelstunden auch einen ganz privaten Charakter. Dementsprechend häufig waren Aussagen vor der Gestapo wie die eines Zellenmitgliedes der Untergruppe rechts der Isar : "Ich habe wohl gewußt, daß die Bibelforscher verboten sind, aber nicht, daß es ein solches Verbrechen ist, wenn man unter Verwandten das Wort Gottes spricht."

Andere wiederum reagierten sehr offensiv auf alle in irgendeiner Weise an sie herangetragenen staatlichen Maßnahmen, die sie sofort religiös interpretierten. So schickte der Rentner Richard Partsch im November 1936 einen Personalbogen unausgefüllt zurück, den die Polizei "zum Zwecke der Personalerfassung für den Sicherheits- und Hilfsdienst für den Luftschutzort München" ausgegeben hatte: Er könne den Bogen wegen "religiöser Bedenken" nicht ausfüllen. Partsch erklärte nun der Polizei, daß die Menschheit vernichtet werden würde, weil sie nicht an Jehovas Wort glaube:

"Die Menschen suchen nun Maßnahmen zu treffen, die zum Teil die bestehenden Schwierigkeiten beseitigen und zum Teil den bestehenden Gefahren begegnen sollen. Nun zeigt aber Gottes Wort, daß diese Maßnahmen unzulänglich sind, weil die Vernichtung der Menschen von Gott kommt. Ich kann deshalb den Fragebogen nicht ausfüllen, weil diese Maßnahmen unzulänglich sind. (...) Es wird soviel Blut fließen, daß es den Pferden bis an das Gezäum aufwallt. (...) Meine Verantwortung besteht darin, daß ich die Menschen vor Maßnahmen, also wie hier Erfassung für den Luftschutz und Ausbau des Luftschutzes warne."

Partsch wurde in Haft genommen und schließlich für unzurechnungsfähig erklärt. Da die Gestapo gegen seine Entlassung Protest einlegte, kam er wahrscheinlich ins KZ. Auch seine Frau saß einige Monate im Gefängnis: Sie hatte im September 1936 den Kongreß in Luzern besucht.

Zeugen Jehovas im Krieg

Mit Kriegsbeginn setzte für die männlichen Zeugen Jehovas ein neues Stadium der Verfolgung ein: Da ihnen die Bibel verbot, eine Waffe in die Hand zu nehmen, mußten sie ihrem Gewissen folgend den Kriegsdienst verweigern. Auf Kriegsdienstverweigerung jedoch stand im nationalsozialistischen Deutschland die Todesstrafe. Insgesamt wurden in Deutschland über 250 Zeugen Jehovas durch Urteile des Reichkriegsgerichts hingerichtet. Einigen Verweigerern gelang es, die Wehrpflicht dadurch zu umgehen, daß sie sich absichtlich in aller Öffentlichkeit "staatsfeindlich" betätigten, um zu Gefängnisstrafen verurteilt zu [Seite 249] werden und dann auf ihre "Wehrunwürdigkeit" zu pochen. Andere fanden vor dem Reichskriegsgericht einen milden Richter, der sie nicht zum Tode, sondern "nur" zu langen Zuchthausstrafen verurteilte. Wieder andere konnten die Hinrichtung bis zum Kriegsende hinauszögern, indem sie kurz vor dem Hinrichtungstermin ihre Verweigerung widerriefen, dann aber doch verweigerten und erneut widerriefen. Wieviele Münchner hingerichtet wurden, ist nicht bekannt. [Seite 250] Auch die Arbeit in der Rüstungsindustrie und alle anderen in irgendeiner Weise mit dem Krieg in Verbindung stehenden Arbeiten wurden von den Zeugen Jehovas verweigert. Manche nahmen dafür auch Gefängnisstrafen und KZ in Kauf.

So gab es im Krieg praktisch keine männlichen Zeugen Jehovas im wehrfähigen Alter mehr, die sich noch in Freiheit befunden hätten. Dennoch konnten sich die Zeugen Jehovas durch die Aktivitäten der Frauen und einiger Rentner in den 40er Jahren erneut organisieren. Auch in München bildete sich wieder eine Gruppe, die mit anderen Gruppen im ganzen Reich in Verbindung stand. Ein Urteil des Oberlandesgerichts vom Februar 1944, das elf Münchner - acht Frauen und drei Männer - ins Gefängnis brachte, hielt fest:

''In den Jahren 1935 bis 1938 wurden zahlreiche Bibelforscher wegen illegaler Betätigung für die IBV abgeurteilt, ihre Führer kamen in Konzentrationslager. In der Folgezeit beschränkte sich die Tätigkeit der Bibelforscher auf gelegentliche Bibelbesprechungen und die Veteilung von heimlich hergestellten Druckschriften mit biblischem Inhalt. Ab 1941 trat hierin jedoch eine Wandlung ein: Der Zusammenhalt unter den Bibelforschern wurde gefestigt, es wurden Unterstützungskassen für die in den Lagern einsitzenden Mitglieder und ihre Angehörigen geschaffen und hierzu Spenden gesammelt. Der Inhalt der Druckschriften richtete sich nunmehr, abgesehen von wenigen Ausnahmen, gegen die Staatsführung, hauptsächlich gegen die aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen und geschaffenen Einrichtungen. In verschiedenen Flugschriften wurde offen zur Verweigerung des Wehrdienstes und der Arbeit in der Rüstungsindustrie aufgefordert und Wehrdienst und Rüstungsarbeit als Unterstützung des Führers, der wiederholt als 'Werkzeug des Satans' bezeichnet wird, verdammt; unter dem Deckmantel religiöser Betrachtungen wurde in gemeiner und gehässiger Weise gegen die totalitären Staaten gehetzt. ''

Eine zentrale Figur im Münchner Gruppenzusammenhang war die in der Schneckenburgerstraße wohnhafte Hausfrau Magdalena Römer : Sie hatte sich 1930 den Zeugen Jehovas zugewandt, nachdem sie durch Krankheit und familiäres Unglück sehr religiös geworden war. Bereits 1936 und 1937 war sie immer wieder Hausdurchsuchungen und Vernehmungen ausgesetzt, unter anderem im Zuge der Verhaftungen der Untergruppe rechts der Isar. Da ihr jedoch keine Bibelbesprechungen nachgewiesen werden konnten, wurde sie wieder freigelassen. Seit Kriegsbeginn stand sie in regem Kontakt mit Zeuginnen Jehovas aus anderen Städten, die sie oft besuchte und mit denen sie Briefe austauschte. Da die Ehemänner dieser Frauen entweder schon hingerichtet oder verschollen oder in KZs waren, unterstützte sie sie auch finanziell. 1941 fand erneut eine Hausdurchsuchung bei ihr statt. Dabei entdeckte die Gestapo illegale Schriften und Matrizen sowie Briefe, die in verschlüsselter Form auf konspirative Tätigkeiten hinwiesen:

[Seite 251] "Mit Bangen habe ich auf Deinen Brief gewartet, immer in Angst, ob auch alles gut gegangen ist. Nun ist mir aber ein großer Stein vom Herzen herunter. Ja gewiß legen wir alles in Gottes Hände, wissend, daß Er alles gut und recht macht (...). Onkel hat mir beim Abschied so sehr ans Herz gelegt: 'Betet für mich, daß ich wiederkomme', und ich will es nie vergessen, es zu tun. Nicht wahr, man wird gleich warm mit ihm. O Hilde, wie wird es doch einmal schön sein, wenn wir alle, die wir in Harmonie mit unserem Schöpfer sind, beisammen sein dürfen, ohne diese Skrupel, es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Ich habe allen Grund, dankbar zu sein, da ich in der letzten Zeit verschiedene Bekanntschaften und Freundschaften knüpfen durfte, die mir über alles lieb sind. Erst gestern erhielt ich wieder Nachricht von einer lieben Schwester aus (?), die mich nächstens besuchen will, auch ein ganz tapferer Kerl und ihr Mann dazu. Eine solche liebe Nachricht stärkt und verbindet uns wieder aufs Neue. (...) Ich bin so froh, daß Onkel wieder gut aus diesem Nest herausgekommen ist, und nun wollen wir fleißig für ihn beten, daß wir ihn wiedersehen dürfen und daß er uns so versorgen darf. Ist das nicht wunderbar, und ich erhielt täglich ein Neugebackenes an der Bäckerstraße. Wie gut es Jehova doch mit uns meint. Ihm sei Lob und Preis und Ehre allezeit."

Die Gestapo vermutete, daß es sich bei dem "Onkel" um einen "dienenden Bruder" der IBV handelte, der verschiedene Gruppen im süddeutschen Raum mit Literatur versorgte, und daß Magdalena Römer dessen Anlaufstelle für die Zeugen Jehovas in München sei. Schließlich packte eine der Briefpartnerinnen Magdalena Römers, deren Mann wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet worden war, aus:

"Bei den in dem Brief (an Magdalena Römer, Anm. d. Verf.) erwähnten Salben handelt es sich um Schriften der IBV. Ich weiß nicht, von wem die Schriften stammen, ich sage es auch nicht, von wem ich sie erhalten habe. (...) Ich gebe nun zu, daß die Hilde (Magdalena Römer, Anm. d. Verf.) schon bei mir war. Über was wir miteinander sprachen, können Sie sich ja denken. Ich gebe auch zu, daß ich mich weiterhin aktiv mit der Bibelforscherei befasse. Von mir aus kann man es mit mir machen wie mit meinem Manne. Ich gehe mit meinen Kindern noch ins Wasser."

Magdalena Römer wurde im März 1942 zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Während ihrer Haftzeit führten andere Zeuginnen Jehovas in München den Literaturaustausch fort; es wurde sogar ein Abziehapparat nach München geschafft, auf dem die Münchner IBV-Schriften vervielfältigten, die sie wiederum in andere Städte lieferten. Im Juli 1942 erreichte Magdalena Römer eine Unterbrechung ihrer Haft, da sie aufgrund ihres Magenleidens und der schlechten Ernährung im Gefängnis auf 42 Kilogramm abgemagert war und während der Fabrikarbeiten zusammenbrach. Die Haftunterbrechung, die sie bis zum Juni 1943 verlängern konnte, nutzte sie jedoch, um sich wieder aktiv in das Literaturverteilungsnetz der IBV einzuschalten. Sie warb weitere Frauen [Seite 251] für die illegale Arbeit an, nahm an Besprechungen zur Organisation der Schriftenverteilung teil, vermittelte die Schriften weiter und sammelte Spendengelder. Als der Gestapo diese Aktivitäten bekannt wurden, kam Magdalena Römer sofort wieder in Haft. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

© 1998 Kulturreferat der
Landeshauptstadt München

Hinweis: Der gedruckte Band ist mit Anmerkungen und Quellenangaben sowie mit Fotos versehen.

Bildunterschriften

- Politische Karikaturen in Zeitschriften der Zeugen Jehovas, die nach Deutschland geschmuggelt wurden
- Von der Polizei aufgenommenes Foto des Schriftenlagers in der Implerstraße
- Martin und Gertrud Pötzinger
- Elfriede Löhr
- Das Flublatt "Resolution"
- "Erklärung", die die Zeugen Jehovas unterschreiben mußten, um aus demKZ oder dem Gefängnis entlassen zu werden


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